»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Sieht alt aus.«
Raffy bewegte sich etwas und stöhnte wieder vor Schmerzen. »Älter als die Stadt«, schloss er. »Aber diese Leute haben das nicht gebaut.« Er sah sich staunend um. »Gar nicht so schlecht für eine Horde böser Menschen, was?«
Evie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Menschen mit einer Amygdala waren zu großen wie auch zu schrecklichen Dingen fähig; diese Menschen hatten mit ihrem intakten Mandelkern Großes vollbracht. Dennoch jagte es ihr große Angst ein, dass die Leute, die diese Halle erbaut hatten, die Leute da draußen, Böses in ihren Köpfen trugen, das nur darauf wartete, sie zum Schlechten zu beeinflussen, und eine Gelegenheit suchte, sie zu verderben.
»Was, glaubst du, werden sie uns antun?«, fragte sie und bereute es sofort, da Raffys Miene sich verdüsterte.
»Ich hätte die Falle sehen müssen«, sagte er. Ich hätte …«
»Aber es war meine Schuld, dass wir gefangen wurden«, sagte Evie hastig. »Aber das ist jetzt egal. Es geht darum, was als Nächstes passiert.«
»Als Nächstes warten wir darauf, dass sie uns umbringen«, sagte Raffy bitter. Er blickte sich wieder um. Dann hellte sich seine Miene auf. »Wir könnten es durch die Fenster versuchen«, sagte er. »Wir lösen die Fesseln und ich helfe dir hinauf und dann …«
»Das sind mindestens drei Meter«, erwiderte Evie. »Dazu bräuchten wir eine Leiter … Und außerdem warten sie draußen wahrscheinlich schon auf uns.«
»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Raffy unwirsch. »Sollen wir lieber warten, bis wir sterben?«
Evie hatte keine Zeit für eine Antwort. Die Tür schwang auf. »Na, inzwischen zur Vernunft gekommen?« Es war derselbe Mann wie zuvor. Er schritt zielstrebig herein und packte Raffy an den Schultern. Der andere, gedrungene Mann brachte einen Holzstuhl und setzte Raffy unsanft darauf. Dann packte er Evie, riss sie hoch und zerrte sie vor Raffys Stuhl, sodass sie ihm mit ein paar Schritten Abstand gegenüberstand.
»So«, meinte der Mann mit dem kahlen Scheitel und schmunzelte leicht. »Du« – er zeigte auf Evie – »wirst uns jetzt etwas erzählen, denn sonst wirst du«, er wies auf Raffy – »eine Menge Schmerzen erleiden. Mein Freund hier hat einen ganz schönen rechten Haken. Wenn du nicht willst, dass der im Gesicht deines Freundes landet, dann sagst du mir jetzt, wer ihr seid und was ihr hier zu suchen habt. Verstanden?«
Evie zitterte. Sie wusste nicht, was ein rechter Haken war, aber sie begriff, dass sie Raffy verletzen würden, und das konnte sie nicht ertragen. Noch schlimmer aber war die Erkenntnis, dass der Bruder recht gehabt hatte: Die Welt außerhalb der Stadt war ein brutaler, abscheulicher Ort, wo die Menschen sich benahmen wie Wilde, wo jeder sich nur von niederen Instinkten leiten ließ. Und das war nun ihre Welt. »Sag nichts«, rief Raffy trotzig. Gleich darauf verpasste der Dicke ihm einen so heftigen Schlag gegen den Kopf, dass Raffy für einige Sekunden das Bewusstsein zu verlieren schien. Evie schrie entsetzt auf.
»Aufhören. Bitte aufhören«, flehte sie.
»Wir hören auf, wenn du redest«, sagte der Kahle und zuckte leicht die Schultern. »Also, noch mal«, sagte er zu seinem Kumpan, und der holte wieder aus mit der Faust.
»Nein«, schrie Evie, und der Dicke hielt inne. »Nein, das dürft ihr nicht. Ich weiß, dass ihr böse seid, aber seht ihr denn nicht, dass das falsch ist? Ihr müsst aufhören. Ihr müsst …« Sie versuchte, zu Raffy zu hüpfen, aber der Kahle hielt sie zurück.
»Böse?« Er zog eine Augenbraue hoch. »Du glaubst, wir sind böse?« Er lachte.
»Ich weiß es«, sagte Evie leise. »Alle, die außerhalb der Stadt leben, sind böse. Nur die Bösen würden so etwas tun.«
Die beiden Männer lachten. »Glaub mir, Böse könnten so etwas nicht tun. Also gut, Angel. Verpass dem Jungen noch eins.«
Der zweite Mann schlug Raffy noch einmal und Blut lief diesem aus der Nase.
»Du … böser Mann«, schrie Evie, und sie wünschte, sie hätte mehr Beschimpfungen in ihrem Wortschatz, mehr Möglichkeiten, um ihren Hass auszudrücken.
Der Mann seufzte. »Böse. Klar. Jetzt sag mir einfach, was ihr hier macht. Ist das wirklich so schwer? Dein Freund hier wird es dir nicht danken, wenn du weiter schweigst, das kann ich dir versprechen.«
Evie konnte den Blick nicht von Raffy wenden, der etwas auf den Boden spuckte, das aussah wie ein Zahn. Sein Blick ging ins Leere, aber er schüttelte ganz leicht den Kopf. Der Dicke holte erneut aus mit der Faust. Sie musste etwas tun, denn Raffy konnte nicht noch mehr verkraften, auch wenn er das niemals zugeben würde. Und sie wusste, dass sie mit den Bösen nicht vernünftig reden oder an das Gute in ihnen appellieren konnte.
»Halt!«, schrie sie. »Wartet.«
»Du sagst mir, wer euch geschickt hat und was ihr herausfinden sollt«, sagte der Kahle. »Dann hören wir auf. Das ist unser Angebot.«
»Niemand hat uns geschickt«, sagte sie wütend. Raffys Gesicht war voller Blut; wenn der Mann weiter zuschlug, würde er ihn töten. »Wir sind aus der Stadt geflohen.«
»Ihr seid geflohen!«, seufzte der Kahle. »Natürlich … Tut mir leid, aber das nimmt euch keiner ab.« Er ging auf Raffy zu und holte aus.
»Nein!«, schrie Evie noch einmal. »Ihr habt versprochen, aufzuhören, wenn ich euch sage, warum wir hier sind.«
»Aber du lügst«, erklärte der Kahle. »Niemand flieht aus der Stadt. Sag uns die Wahrheit und wir hören auf.«
Evie schwieg. Der Mann schnippte mit den Fingern; der Dicke kam zu ihr und hielt sie fest. »Mal sehen, ob dein Freund redet, um dich zu retten.« Der Mann hob wieder die Faust. Evie machte sich auf den Schlag gefasst. Sie war noch nie geschlagen worden, sie hatte noch nie so große Angst gehabt, doch sie war entschlossen, es nicht zu zeigen.
»Nein!«, brüllte Raffy. »Lasst die Finger von ihr. Wir sind wirklich geflohen.« Die Faust des Dicken hielt ganz knapp vor Evies Gesicht inne; sie konnte seinen Schweiß riechen. »Durchs Osttor. Ihr Vater ist Schlüsselhüter. Sie hat seinen Schlüssel genommen.«
»So so, sie hat seinen Schlüssel genommen«, sagte der Kahle. Die Faust des anderen war immer noch so dicht vor Evies Gesicht, dass sie die Augen schließen musste. »Also gut. Nehmen wir mal an, ihr sagt die Wahrheit. Warum sollten denn zwei so nette junge Leute wie ihr aus der Stadt fliehen? Ist ja nicht gerade eine Ferienkolonie hier draußen, oder?«
»Weil sie mich sonst getötet hätten.« Raffy schäumte vor Wut. Der Mann ließ Evie los, und sie sank zu Boden, bevor sie das Gleichgewicht finden konnte. »Sie haben mich zum K erklärt.«
»Dich? Du bist ein Killable?« Der Kahle sah ihn ungläubig an.
Raffy sah kurz zu Evie hinüber. Sie wusste, dass er das Gleiche dachte wie sie: Dieser Mann wusste, was K bedeutete.
»Oh ja. Ich weiß Bescheid über die Killables«, sagte der Kahle, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkt hatte. »Aber ich würde gern wissen, warum ein Bürschchen wie du zum K erklärt wird. Was kannst du denn schon getan haben?« Er musterte Raffy, als wäre der ein Kalb, stupste ihn gegen die Schulter und sah ihm ins Gesicht.
»Ich bin im System auf etwas gestoßen, und sie dachten wohl, ich hätte es dort eingeschleust.«
Der Mann erschrak, er runzelte die Stirn, drehte sich um und ging ein paar Schritte, offenbar tief in Gedanken. Dann kam er zurück und beugte sich ganz nah zu Raffy. »Du bist im System auf etwas gestoßen? Und auf was bist du gestoßen?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Raffy und biss sich auf die Lippen. »Irgendetwas hat nicht richtig funktioniert.«
Der Mann ging vor Raffy auf und ab. »Du kennst dich aus mit dem System?«
Raffy nickte. »Schon. Ich war Administrator.«
Der Kahle atmete tief aus. »Das Problem ist, dass das für mich immer noch keinen rechten Sinn ergibt. Du sagst, sie hätten dich zum K erklärt. Warum haben sie dich dann nicht festgenommen und eingesperrt? Wie hast du entkommen können?«