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»Weil ich noch kein K war, als wir geflohen sind. Wir sind die Nacht davor entkommen«, sagte Raffy heftig.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nein. Und ich will dir auch sagen, woher ich weiß, dass du lügst, und warum mein Freund Angel deiner Freundin wehtun muss, wenn du nicht endlich die Wahrheit sagst – weil das, was du mir da erzählst, ganz unmöglich ist. Niemand weiß im Voraus von einem Rangwechsel im System. Niemand.«

Der Dicke kam drohend auf Evie zu und sie wich zurück. »Wartet«, sagte Raffy beschwörend. »Wartet. Mein Bruder hatte mich vor dem Wechsel gewarnt. Er hat gesagt, ich müsste fliehen.«

»Dein Bruder«, wiederholte der Mann. »Und woher wusste dein Bruder Bescheid?«

»Ich weiß nicht«, meinte Raffy kleinlaut. »Er ist weit oben in der Regierung.«

Der Dicke war stehen geblieben. »Dann fassen wir mal zusammen«, sagte der Kahle. »Du wirst zum K erklärt, weil du einen Fehler findest; dein Bruder, der dich warnt, ist in der Regierung und setzt seine Karriere aufs Spiel, weil er dir und deiner Freundin zur Flucht verhilft? So läuft es aber normalerweise nicht in der Stadt. Man kann sich nicht gegen das System stellen, oder?«

Raffy antwortete nicht. Der Mann zuckte die Schultern und wandte sich wieder an Evie. »Und du bist einfach mit ihm gegangen? Du hast einfach so die Stadt verlassen?«

Evie nickte angstvoll. »Ich musste. Sie hätten mich als Nächste zur K erklärt.«

»Und woher weißt du das?«

»Weil ich den Schlüssel aus dem Safe meines Vaters genommen habe.«

»Weil du den Schlüssel aus dem Safe deines Vaters genommen hast«, sagte der Mann und lächelte. »Natürlich hast du das. Siehst du, Angel? Es ist alles ganz klar.«

Der Dicke grunzte und der andere drehte sich wieder zu Raffy um. »Sonnenklar für ein Ammenmärchen, das die Stadt in die Welt gesetzt hat. Ihr seid hier, um uns auszuspionieren, oder? Hab ich nicht recht?«

»Nein«, sagte Raffy mit finsterem Blick. »Ich hasse die Stadt. Ich würde nie für sie spionieren. Lasst uns einfach gehen.«

»Gehen? Wohin denn?«, fragte der Kahle. »Ihr könnt nirgendwohin, jetzt wo ihr aus der Stadt draußen seid.«

»Doch, zufällig können wir das«, murmelte Raffy leise.

»Ach, ihr wisst, wo ihr hinwollt?« Der Mann beugte sich hinunter, sodass sein Gesicht ganz dicht vor Raffys Gesicht war. »Und was soll das für ein Ort sein?«

»Eine andere Stadt«, sagte Evie sofort. »Es gibt eine andere Stadt.«

»Eine andere Stadt, sagst du?« Der Mann trat zu ihr hin und gluckste. »Und da bist du dir ganz sicher, junge Dame?«

»Ja«, entgegnete Evie trotzig. »Weil Raffys Vater sie entdeckt hat. Er hat mit ihr Verbindung aufgenommen. Raffy hat das Kommunikationsprogramm entdeckt. Deshalb haben sie ihn zum K erklärt und deshalb sind wir hier. Also lasst uns bitte gehen. Wir sind keine Spione. Wir sind überhaupt nichts.«

Der Mann starrte sie einen Augenblick lang an, dann blickte er zu Raffy. »Euch gehen lassen?«, sagte er schließlich. »Wenn wir euch gehen lassen, dann seid ihr innerhalb eines Tages tot. Nein, meine Freunde, wir lassen euch nicht gehen. Aber keine Sorge. Wir werden uns um euch kümmern. Nicht wahr, Angel?«

Der Mann, der Raffy geschlagen hatte, nickte stumm. Evie hätte sich keinen unpassenderen Namen für jemanden vorstellen können. Engel waren wunderschöne mystische Wesen aus der alten Welt. Die Menschen hatten Engel angerufen, wenn sie in Not waren. Obwohl das völliger Unsinn war von den Menschen, wie sie in der Schule gelernt hatten; sie wandten sich an nicht existierende Wesen um Hilfe, statt zu erkennen, dass sie sich selbst helfen konnten. Und trotzdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand an diesen wütenden, gewalttätigen Mann um Hilfe wenden könnte.

»Ich heiße Linus.« Der erste Mann streckte Raffy die Hand hin und der schaute unsicher darauf. »Tut mir leid, das habe ich ganz vergessen …«, sagte Linus und schmunzelte. Er griff unter sein Hemd und zog ein Messer hervor. Raffy streckte hinter dem Rücken die Hände aus und beäugte das Messer argwöhnisch, bis Linus die Stricke durchgeschnitten hatte. Angel schnitt unterdessen Evies Fesseln durch. Sie bewegte vorsichtig die Glieder. Evies Beine schmerzten; ihr ganzer Körper war steif und zerschunden. Auch Raffy stand auf; Angel verschwand und kam kurz darauf mit einem feuchten Tuch wieder, mit dem Raffy sein Gesicht säuberte. Mit einem kurzen Nicken zu Linus verschwand Angel wieder.

»Willkommen in unserer vorübergehenden Bleibe«, verkündete Linus und hielt Evie die Hand hin. »So vorübergehend, dass wir sie schon heute verlassen werden. Ihr braucht bessere Kleidung. Und etwas zu essen. Wir haben heute einen langen Marsch vor uns, da werdet ihr alle eure Kräfte brauchen.«

»Warum?«, fragte Raffy düster. »Wo bringt ihr uns hin?«

»Abwarten«, entgegnete Linus. »Das werdet ihr schon ziemlich bald erfahren.«

13

Sie kamen aus der großen Halle in einen zweiten Saal ohne Dach und dann weiter auf eine Freifläche, die wohl einmal eine Straße gewesen war. Von außen musste das Gebäude einmal prachtvoll ausgesehen haben, mit reich verzierten, hoch aufragenden Säulen und kunstvollem honigfarbenen Mauerwerk. Evie blickte voll Bewunderung zurück; so etwas hatte sie noch nie gesehen. Wie konnte eine von bösen Menschen beherrschte Welt so etwas Schönes hervorbringen. Dahinter war nichts mehr; nur eine Straße, die ins Nichts führte, und überall woben sich Kriechpflanzen durch den Schutt.

»Gefällt es dir? Das war einmal die Rechtsprechung«, erklärte Linus und blickte mit funkelnden blauen Augen um sich. »Aber über die Rechtsprechung weißt du wahrscheinlich auch nicht allzu viel, oder?«

Evie errötete verlegen. »Nein«, sagte sie schließlich. »Was ist das?«

»Recht?« Er gluckste; als er lächelte, zogen sich Falten von seinen Augen bis zu den Mundwinkeln, tiefe Falten, die seinem Gesicht so viel Wärme und Tiefe gaben, dass Evie bemerkte, dass sie keine Angst mehr vor ihm hatte. »Recht macht Zivilisation erst möglich. Das Recht verhindert, dass eine Gesellschaft in einem Strudel aus Rache und Verbrechen versinkt.«

Evie runzelte die Stirn. »So wie die Neutaufe?«

»Die Neutaufe?« Linus erstarrte und die Wärme wich aus seinem Gesicht. »Glaubst du, die schützt euch?« Er seufzte, blieb stehen und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Das Recht und die Neutaufe haben nichts miteinander zu tun. Das Recht ist ein System aus Regeln und Prinzipien, nach denen niemand in einer Sache angeklagt und bestraft werden kann, ohne dass er die Gelegenheit bekommen hat, sich zu verteidigen. Die übergeordneten Prinzipien sollen dafür sorgen, dass die Gesellschaft alle gerecht und gleich behandelt. Das Recht ist … es ist …« Er dachte einen Augenblick nach. »Es sollte niemals in einem Atemzug genannt werden mit der Neutaufe, es sei denn in Verbindung mit dem Wort ›gegen‹. Drücke ich mich klar aus?«

»Ja«, sagte Evie bemüht, auch wenn überhaupt nichts klar war, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wovon er redete. Sie wusste nur, dass ihre Angst wieder da war, dass sie Linus verärgert und aufgebracht hatte. Und sie wollte ihn nicht verärgern. Sie wollte, dass er sie mochte. Sie wusste, dass Raffy ihm nicht traute – sie konnte es daran erkennen, dass er ihn nicht aus den Augen ließ –, aber sie wollte sich gutstellen mit Linus, wollte seine Lachfalten wieder sehen. Denn wenn Linus etwas über die Stadt wusste, dann wusste er vielleicht noch mehr. Vielleicht wusste er etwas über die Menschen, die vor so vielen Jahren zur Stadt gekommen waren. Vielleicht wusste er sogar etwas über ihre richtigen Eltern …

»Gut«, sagte er barsch. »Also los. In diese Richtung.« Er scheuchte sie um eine Ecke und weiter in ein anderes Gebäude, aber kaum waren sie drinnen, waren sie auch schon wieder draußen. Es bestand nur noch aus der Fassade. Auf der Wiese vor ihnen waren drei Zelte aufgeschlagen. In der Mitte saßen fünf Leute beisammen, unter denen Evie sofort Angel erkannte. Er winkte kurz, als sie näher kamen, aber Evie sah schnell weg und versuchte, nicht die Schultern einzuziehen vor Angst.