Doch Linus bemerkte es. »Angel ist ein guter Mann«, sagte er und legte ihr, während sie an einem Zelt vorbeigingen, die Hand auf die Schulter. »Er ist einer meiner Besten. Ihr braucht keine Angst vor ihm zu haben. Solange ihr nicht unsere Feinde seid, wird er euch nichts tun.«
Raffy zog Evie weg, sodass Linus’ Hand wieder herabfiel. »Und woher sollen wir wissen, ob wir eure Feinde sind oder nicht?«, fragte er und presste wütend die Kiefer aufeinander. »Wir wissen ja nicht einmal, wer ihr seid. Ihr behauptet zwar, ihr wärt keine Bösen, aber warum habt ihr uns sonst verschleppt und gequält?«
»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Linus lächelnd. »Setzt euch und esst etwas.«
Er setzte sich im Schneidersitz neben eine Frau mit kastanienbraunem Haar, die sofort verschiedene Gefäße öffnete und daraus etwas, was offenbar etwas zu essen war, auf drei Pappteller löffelte. Diese gab sie einen nach dem anderen Linus, und der gab einen an Raffy weiter, einen an Evie und einen behielt er selbst. »Esst«, sagte er und nickte auffordernd. »Esst erst einmal und dann reden wir.«
Evie schaute zaghaft auf das Essen. Ein Brötchen. Etwas Grünes. Etwas Weißes. Nichts war so, wie sie es aus der Stadt kannte. Das Essen dort war einfach und ohne alle Schnörkel. Gekocht, gegrillt oder in ganz wenig Öl gebraten, wenn unbedingt nötig. Brot und Hafer bildeten die Grundnahrungsmittel, mit Milch und Kartoffeln als Beilagen. Der Teller vor ihr dagegen war ganz bunt; es konnten Karotten sein, aber sie waren ganz fein geschnitten und vermischt mit etwas anderem, vielleicht Zwiebeln, und mit einer dicken roten Flüssigkeit darüber. Es konnte vergiftet sein, das wusste sie, aber es duftete köstlich, und sie hatte solchen Hunger, dass ihr Magen sich anfühlte, als hätte er sich bis zum Rückgrat zusammengezogen.
»Esst«, sagte Linus noch einmal, diesmal aber freundlicher. »Es wird euch schmecken. Martha ist eine unglaubliche Köchin.« Er lächelte die Frau zu seiner Linken an, woraufhin diese errötete. »Wir können die Teller tauschen, wenn ihr glaubt, dass wir euch vergiften wollen«, fuhr er fort und hielt Evie mit einem Augenzwinkern seinen Teller hin. Evie erstarrte kurz; schon wieder hatte er genau gewusst, was sie dachte.
»Das ist nicht nötig«, warf Raffy ein. Er beugte sich zu Evie und drückte ihr Handgelenk. »Wir essen zusammen.« Er warf ihr ein Lächeln zu, ein Lächeln, das ihr sagen sollte, dass sie nicht nur zusammen aßen, nein, sie steckten beide zusammen drin, sie würden das hier zusammen durchstehen, sie beide, genauso wie es in ihrem Baum gewesen war, mit Lachen, mit Reden, mit den Geheimnissen und Ängsten, die sie teilten. Evie griff nach dem Brötchen und stopfte es in den Mund. Und sie musste an sich halten, um nicht zu quieken vor Entzücken, denn sie hatte noch nie etwas so Köstliches gegessen.
»Probier mal die Avocado«, sagte Linus und deutete auf eine grüne Masse auf dem Teller. »Am besten das Brötchen einstippen.«
Sie folgte seinem Rat. Sie hatte noch nie Avocado gegessen, aber die Paste war himmlisch, die sämige Konsistenz dekadenter als alles, was sie bis jetzt gekostet hatte.
»Das ist gut«, sagte sie seufzend zwischen den Bissen. Linus lächelte und zwinkerte Martha zu. Die beiden sahen zu, wie Evie das Brötchen mit der Avocadocreme verschlang und Martha erlaubte, ihr noch mehr auf den Teller zu häufen. Sie lächelte Raffy zu und wollte das Vergnügen mit ihm teilen, aber der blickte zur Seite, und sie sah etwas, was ihr zuvor, als sein ganzes Gesicht mit Blut verschmiert gewesen war, nicht aufgefallen war. An seiner linken Schläfe war eine blutverkrustete Narbe, genau dort, wo sie selbst den stechenden Schmerz gespürt hatte. Der Schmerz schien verschwunden zu sein, aber sie fasste sich an die Schläfe, ertastete die leichte Vertiefung und etwas Raues, das sich anfühlte wie eine Naht. Sie stellte den Teller weg, denn ihr Herz klopfte und der Appetit war ihr mit einem Mal vergangen.
»Wie haben Sie das gemeint mit dem Chip?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Vorhin, als wir aufgewacht sind?«
Linus lächelte mit vollem Mund. »Ich dachte, wir sind beim Essen.«
Evie versuchte zu schlucken, doch ihr Mund war wie ausgedörrt. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie nicht mehr weiteressen können.
Sie wandte sich wieder an Linus. »Können wir nicht essen und reden gleichzeitig?«, fragte sie leise und sah ihn an.
Jetzt lachte Linus. »Ich verstehe, warum du die Stadt verlassen hast. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dort klargekommen bist, wenn du die ganze Zeit so fordernd warst.«
Evie schüttelte den Kopf. »Ich hasse die Stadt. Ich möchte nicht darüber sprechen.«
»Also wenn das so ist, dann rede ich«, erwiderte Linus mit einem Achselzucken. Er stellte den Teller vor sich auf den Boden. »Ist vielleicht gar keine schlechte Idee; wir müssen sowieso bald los.«
»Los wohin?«, fragte Raffy.
»Ach«, sagte Linus. »Tja, das ist die Frage, nicht wahr? Eine Frage, die ich nicht beantworten werde, wenn du mir verzeihst. Sagen wir einfach, wir gehen zurück nach Base Camp.«
»Nach Base Camp?« Evie wechselte einen Blick mit Raffy. »Was ist das?«
»Von dort«, sagte Linus, »kommen wir her. Dort lebt unser Volk.«
»Die andere Stadt?«, fragte Evie aufgeregt, und ihre Nackenhaare stellten sich auf.
Linus sah sie an, sah ihr ein paar Sekunden lang in die Augen und drehte dann den Kopf leicht zur Seite. »Keine richtige Stadt, nein«, sagte er schließlich.
»Was ist es dann?«, fragte Raffy, beugte sich vor und schaute Linus prüfend an.
»Es ist …«, er blickte ein paar Sekunden nachdenklich drein, dann verzog er das Gesicht. »Es ist in der Entwicklung befindlich«, erklärte er.
Auch Raffy stellte seinen Teller ab. »Du hast gesagt, wir würden reden.«
»Wir reden doch«, entgegnete Linus und sah Raffy fragend an.
»Nein, das tun wir nicht. Du sagst uns überhaupt nichts. Woher weißt du Bescheid über die Stadt? Was ist mit diesem Chip, von dem du Evie erzählt hast? Wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Warum habt ihr uns eine Falle gestellt und warum behaltet ihr uns jetzt noch hier? Warum tötet ihr uns nicht oder lasst uns gehen? Sag es uns.« Raffy sprach leise und seine Augen blickten eindringlich. Evie sah, dass jeder Muskel an seinem Hals und an den Armen zum Zerreißen gespannt war.
Auch Linus sah es. Evie glaubte, so etwas wie Respekt in seinen Augen zu erkennen. Vielleicht bildete sie es sich aber auch nur ein, weil sie es sehen wollte. Jedenfalls starrte sie Linus an mit der ganzen Entschlossenheit, die sie aufbieten konnte, weil er antworten musste, weil sie eine Antwort verdient hatten – weil jede Frage nur wieder neue Fragen aufwarf, und weil ihr Gehirn schmerzte von all den Ungewissheiten, die sich dort drängten.
Linus lehnte sich zurück. Seine Augen leuchteten belustigt, so als wäre das ein Spiel, so als würde er den nächsten Zug erwägen. Dann beugte er sich wieder vor.
»Der Chip, von dem ich gesprochen habe«, sagte er und blickte von Evie zu Raffy und wieder zu Evie, »war ein Implantat, das euch beiden in den Kopf eingepflanzt worden ist. Es ist ein Peilsender. Ich habe ihn entfernt, damit die Polizeigarde der Stadt euch nicht verfolgen kann. Und uns.«
»Ein Implantat?« Evie fasste sich wieder mit der Hand an die Schläfe. Sie sah Raffy an, der dasselbe tat und dasselbe dachte. Über das Blut und über die Schmerzen, als sie gefangen genommen wurden.
»Tut mir leid, aber ich musste es tun«, sagte Linus leise. »In dem Wasser, das ich euch gegeben habe, waren Schmerzmittel. Inzwischen sollte es euch wieder gut gehen.«
Evie rückte näher zu Raffy hin, und sie spürte, wie ihr heiß wurde. Ein Chip? In ihrem Kopf? In Raffys Kopf? Durch den man sie überall orten konnte? Aber dann hätte das System auch von ihren Treffen gewusst, von dem Baum. Es hätte alles gewusst.
Raffy nahm ihre Hand und drückte sie. Dann wandte er sich wieder an Linus. Evie konnte an der Art, wie seine Kiefermuskeln sich anspannten, erkennen, dass er dasselbe dachte wie sie. »Du lügst«, sagte er mit angespannter Stimme. »Es gibt keine Implantate in der Stadt. Und auch keine Chips. Es kann keine geben. Wie hätten wir sonst entkommen sollen? Sag mir, was ihr gemacht habt? Unsere Gehirne untersucht? Warum? Was habt ihr getan?«