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Linus stieß geräuschvoll den Atem aus und lehnte sich zurück auf seine Ellenbogen. »Eure Gehirne untersucht? Na, das wäre vielleicht eine ganz interessante Erfahrung gewesen, aber ich untersuche lieber nicht die Gehirne von Leuten, die noch leben. Aus irgendeinem Grund scheinen die Gehirne das nicht zu mögen.«

Er lächelte sie kurz an, setzte sich dann wieder auf und sagte ernst: »Hört mir zu.« Sein Ton war sanft, aber eindringlich. »Alles, was man euch in der Stadt erzählt hat, müsst ihr vergessen.«

»Warum sollten wir?«, fragte Raffy böse. »Wo du uns doch auch nichts erzählst.«

»Das werde ich tun, wenn es so weit ist.« Linus stand auf. »Ich werde euch alles erzählen, wenn ihr dazu bereit seid, es zu hören.«

»Wir sind jetzt bereit«, sagte Raffy, schäumend vor Wut, stand ebenfalls auf und trat Linus in den Weg. »Du hast gesagt, wir würden reden. Also rede. Erzähl mir etwas. Irgendwas.«

»Ich habe euch das mit dem Chip erzählt«, antwortete Linus gemessen, »aber ihr glaubt mir nicht.«

»Weil ich weiß, dass du lügst.« Raffy rührte sich nicht vom Fleck. »Erzähl mir etwas anderes. Etwas, das stimmt.«

Linus schien darüber nachzudenken. Dann zuckte er die Schultern. »Du hast mich gefragt, warum wir euch beide nicht getötet haben.«

»Und? Warum nicht?«

»Weil das gar nicht nötig ist«, antwortete Linus und ging an Raffy vorbei, »denn wenn ihr so weitermacht, dann bringt ihr euch schon selber um.« Er hielt inne, kam zurück und blieb ganz dicht vor Raffy stehen. »Ihr seid jetzt nicht in der Stadt.« Dann fügte er mit leiser, aber kraftvoller Stimme hinzu: »Die Regeln sind zwar anders, aber es gibt sie immer noch. Und hier draußen gelten unsere Regeln. Zu unserem Schutz. Denkt einmal darüber nach. Ihr werdet herausfinden, was ihr wissen müsst, wenn ihr es wissen müsst und wenn ich es euch erzählen will. Bis dahin genießt unsere Gastfreundschaft, esst gut und ruht euch aus. In einer Stunde brechen wir auf. Ihr werdet wieder Kopfschmerzen bekommen. Martha dort hat Schmerzmittel für euch. Wenn ihr genügend Flüssigkeit zu euch nehmt, dann erholt ihr euch schneller. Wenn ihr tut, was man euch sagt, bekommt ihr alles, was ihr braucht. Das gilt auch für deine Freundin. Sie folgt deinem Beispiel, also denk auch daran, mein Freund. Denk über alles nach. Wir sehen uns später.«

Er ging durch die Gebäudefassade hinaus und ließ sie schweigend zurück.

Raffy nahm wieder seinen Teller, aß und ermunterte Evie, es ihm gleichzutun. Zögernd folgte sie seinem Beispiel.

»Ich bin froh, dass ihr esst«, sagte Martha mit einem rätselhaften Lächeln. Ihre Stimme war sanft und melodisch, anders als Linus’ schroffer Tonfall. »Es muss schwer sein, hier zu sein. Wir alle haben es am Anfang schwer gefunden. Aber Linus ist ein guter Mensch und er will nur unser Bestes.« Sie stand auf und zog sich in ein Zelt zurück. Auch die anderen verschwanden einer nach dem anderen, bis nur noch Evie und Raffy im Gras saßen.

»Unser Bestes«, flüsterte Raffy höhnisch. »Ich glaub ihnen kein Wort. Mit diesem Ort stimmt etwas nicht. Und mit Linus. Und wir werden nicht so lange hier herumsitzen, bis wir es herausfinden.«

Evies Augen weiteten sich. »Nicht?«, flüsterte sie zurück.

»Wir hauen heute Nacht ab«, sagte Raffy, und seine Augen glänzten. »Linus ist ein Lügner, sie alle sind Lügner. Sie wollen irgendetwas von uns, aber sie werden es nicht bekommen. Tu so, als wenn alles in Ordnung wäre. Dann, wenn ich das Zeichen gebe, rennen wir los. Okay? Aber iss jetzt erst einmal. Wer weiß, wann wir wieder etwas zu essen bekommen.«

Evie nickte. Sie aßen so viel sie konnten. Dann legte Raffy sich hin und Evie schmiegte den Kopf an seine Schulter. Bei dem regelmäßigen Geräusch seines Atems kam auch sie langsam zur Ruhe und schlief schließlich ein.

»Ich verstehe«, sagte der Bruder und blickte den Chef der Polizeigarde an, einen untersetzten, aufrechten Mann, der seinen Schlagstock voller Stolz trug. Keine Pistolen für seine Polizeigarde, keine Waffen des Bösen. Manchmal fand der Bruder seine eigenen Regeln frustrierend und restriktiv. Er sehnte sich nach Menschen, die die Welt so sahen, wie sie wirklich war, die erkannten, was getan werden musste, aber die trotzdem die Wahrheit sahen. Der alte Mann im Pförtnerhäuschen mit seinem Gewehr und seinem Hund wusste, wie die Welt wirklich war, aber er war auch Alkoholiker, ein Nichtsnutz, der alles tat, was man von ihm verlangte, für eine wöchentliche Lieferung des Begrüßungstrunks, einem süßen vergorenen Wein, der das spirituelle Erleben steigerte. Ein Gefährte war der Wächter ganz bestimmt nicht. »Und es gibt keine Spur von ihnen?«

»Keine Spur, Bruder«, antwortete der Polizeichef mit gesenktem Kopf. »Wir haben alles abgesucht. Bis zum Einbruch der Dunkelheit.«

»Nun gut«, sagte der Bruder. »Danke.«

Er wartete, bis der Mann gegangen war, und legte dann den Kopf in den Nacken. Es war ein entsetzlicher Tag gewesen, angefangen mit der Nachricht, dass der Junge entkommen war. Dann hatte sich herausgestellt, dass das Mädchen ihm geholfen hatte. Der Vater hatte die Nachricht mit aschfahlem Gesicht aufgenommen, die Mutter hatte getobt und geschrien, sie habe immer gewusst, dass das Mädchen niederträchtig war. Und dann hatte die Polizeigarde bei der Fahndung versagt und die beiden Halbwüchsigen nicht finden können.

War es Zufall oder war es Planung? Aber wie nur hatten sie so etwas planen können? Unmöglich. Sie konnten nicht wissen, was dem Jungen bevorstand. Jedenfalls nicht, wenn Lucas es ihnen nicht erzählt hatte. Und das war unmöglich. Es war …

Er seufzte laut und klingelte nach seinem Sekretär. »Schick Lucas zu mir«, bellte er in die Sprechanlage, knapper, als er eigentlich wollte. »Bitte«, schob er gerade noch rechtzeitig nach.

»Ja, Bruder. Natürlich.«

Seine Hand glitt vom Summerknopf und fuhr an die Stirn, wo sie sich mit der Rechten verschränkte, so wie immer in solchen schwierigen und herausfordernden Momenten.

»Zeiten wie diese formen uns«, flüsterte er. »Nur an Herausforderungen können wir wachsen und unsere Persönlichkeit voll entfalten. Unsere stärkste Persönlichkeit.« Er hatte diese Worte so oft gesagt und damit so vielen Menschen Trost und Hoffnung gespendet. Und doch empfand er jetzt nur eine gärende Verbitterung, eine Wut, die ihn von innen heraus zu verzehren schien, sodass er nach Atem ringen musste.

Woher hatten sie es gewusst? Wie hatten sie eine solche Flucht planen können? Wie nur? Wie?

Es klopfte an der Tür; das Klopfen seines Sekretärs. Behutsam. Unaufdringlich. Er schätzte dieses Klopfen immer sehr.

»Schick ihn herein«, rief er. Kurz darauf trat Lucas ein.

»Bruder«, sagte der mit unbewegter Miene.

»Was hast du in Erfahrung gebracht?«, fragte der Bruder, und es gelang ihm nicht, den Überdruss in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Ich denke, sie haben es lange geplant«, sagte Lucas ernst. »Der Zeitpunkt war wohl zufällig und scheint mir eher mit der Inhaftierung meines Bruders zusammenzuhängen als mit seiner bevorstehenden Herabstufung. Wir wissen jetzt, dass er sich öfter mit dem Mädchen getroffen hat. Im System kannte er sich besser aus, als wir dachten, und er muss einen Weg gefunden haben, ihre Bewegungen vor uns zu verbergen. Ich hätte wissen müssen, dass auch das Mädchen böse ist – sie war schließlich meine Verlobte, Bruder. Ich hätte es merken müssen. Aber das habe ich nicht. Ich habe ihr geglaubt. Ich …«

Er hielt kurz inne und sammelte sich. »Sie muss in der Nacht zum Haus gekommen sein. Ich bin schuld. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte Wache halten müssen.«

»Du konntest nicht wissen, wie weit sie gehen würden«, sagte der Bruder und schüttelte den Kopf. »Du konntest nicht wissen, dass das Böse in ihnen so tief ging.«