»Nein«, antwortete Lucas, »aber ich hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen.«
Der Bruder nickte. »Vielleicht. Was noch? Sie hat den Schlüssel an sich genommen? Und wie?«
»Ihr Vater beharrt darauf, dass er ihr die Kombination nicht gezeigt hat.«
»Aber wie dann?«
»Ihre Mutter sagt, sie sei verschlagen und müsse ihn dabei beobachtet haben.«
»Beobachtet? Wann? Der Schlüssel ist seit Monaten nicht benutzt worden.«
Lucas sagte nichts, er hob nur die Augenbrauen und seine Augen sagten alles.
»Ich verstehe«, sagte der Bruder.
»Besteht Aussicht, dass wir sie finden?«, fragte Lucas.
Der Bruder schüttelte den Kopf. »Nein. Die Polizeigarde hat die Suche eingestellt. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie inzwischen entweder von wilden Tieren zerrissen oder von den Bösen getötet worden. Ich versuche, meine Herde zu beschützen, Lucas, aber die, die uns aus eigenem Entschluss verlassen, kann ich nicht beschützen.«
»Nein, Bruder.« Keine Spur von Traurigkeit, dachte der Bruder bei sich, und ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Keine einzige Träne für seinen eigenen Bruder.
»Danke, Lucas. Das wäre alles.«
»Ja, Bruder.« Lucas ging zur Tür. Dann drehte er sich kurz um. »Die Akte über Raphael. Über die Panne. Soll ich sie jetzt abschließen?«
Der Bruder nickte. Es hatte keinen Sinn mehr. Lucas öffnete die Tür. Und dann fiel dem Bruder etwas auf. Lucas biss die Kiefer aufeinander. Seine Kiefer waren nicht entspannt wie sonst, nicht entschlossen und kraftvoll, nein, er biss sie aufeinander. Angespannt.
»Aber schick sie mir«, verkündete der Bruder nachdenklich. »Ich würde sie gern hier im Büro haben, du verstehst schon.«
Lucas zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, aber gerade lange genug zur Bestätigung für den Bruder, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Sehr gut, Bruder.«
»Danke, Lucas. Danke, wie immer«, sagte der Bruder, lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und bemerkte, dass alle Schwere von ihm abgefallen war. Etwas anderes war an deren Stelle getreten, etwas, das Sinn und Energie und all die anderen Dinge spendete, die ihm in den vergangenen Tagen verloren gegangen waren.
Eine Ahnung. Wovon, das wusste er noch nicht, aber er würde es bald wissen. Und in der Zwischenzeit würde er auf der Hut sein, Augen und Ohren offen halten. Genau darum war er der Bruder.
Darum hatte er das Sagen.
14
Evie schlief nicht lange. Ihr war, als hätten sich ihre Lider gerade erst schwer über die Augen geschoben, als Raffy sie sanft schüttelte. »Sie packen zusammen«, sagte er. »Wach auf, Evie.«
Sie wollte nicht aufwachen, wollte nicht zurück in diese fremde Welt, zu ihren Kopfschmerzen und zu ihren endlos kreisenden Fragen. Doch als sie die Augen aufschlug, blickte Raffy auf sie herab, und sein gehetzter Blick kam ihr etwas weicher vor als seit ihrer Flucht aus der Stadt. Zärtlich fuhr er mit dem Finger die Linie ihres Kinns nach, strich mit dem Daumen weiter über ihre Augenbrauen und sie schloss die Augen wieder, nur für einen Moment, denn sie waren jetzt draußen im Freien, zum ersten Mal versteckten sie sich nicht, weder in einem Baum noch in einer Höhle. Sie blickten nicht über die Schulter zurück oder hatten Angst, was hinter der nächsten Ecke lauerte. Sie waren einfach nur. Sie waren hier, in der warmen Sonne, zusammen, und es kam dem Gefühl am nächsten, das sie als glücklich in Erinnerung hatte. Sie wollte diesen Moment bewahren, sich daran erinnern, wie es sich anfühlte. Denn obwohl es geschah, obwohl sie Raffy spüren konnte, seine Berührung und das Heben und Senken seiner Brust, so wusste sie doch, dass es nicht wirklich war und dass es nicht von Dauer sein konnte. Augenblicke wie dieser waren nie von Dauer; das wusste sie tief im Innern. Sie waren nur kurz da, um einem Stärke zu geben und etwas, an das man sich erinnern konnte, an dem man sich festhalten konnte, wenn wieder dunklere Tage kamen.
»Ich liebe dich, Evie«, flüsterte er, und sie spürte ein Ziehen im Herzen, ein Verlangen nach ihm, aber es war noch mehr. »Du bist der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der mir etwas bedeutet. Du und ich, Evie. So wird es immer sein: du und ich.«
Sie nickte, fasste ihn um den Hals, fühlte seine Küsse und drängte sich an ihn. Aber die ganze Zeit hatte sie nur einen Gedanken. Lucas. Sie musste es Raffy sagen, das mit Lucas. Sie musste ihm die Wahrheit sagen.
»Raffy«, flüsterte sie. »Raffy, es gibt da etwas …«
Doch in diesem Moment hörten sie Schritte näher kommen und jemand rief nach Raffy. Es war Linus. Die Gelegenheit war vorbei. »Hey«, rief Linus. »Hier drüben. Pack mal mit an.« Evie rappelte sich hoch, damit auch Raffy aufstehen konnte. Linus blickte sich suchend um und sagte dann zu Evie: »Du, du hilfst Martha.« Offenbar kannte er ihren Namen nicht. Er war so begierig auf Antworten gewesen, aber nach ihren Namen hatte er sie nicht gefragt.
Evie lief zu Martha hinüber, die gerade ein Zelt abbaute. Wie die Zigeuner in den Geschichten ihrer Mutter, dachte Evie, als sie die Heringe aus dem Boden zog. Nie lange an einem Ort, immer auf der Flucht. War das nun ihr neues Leben? War sie unter die Zigeuner gegangen, so wie ihre falsche Mutter immer gewarnt hatte, dass es einmal so weit kommen würde mit ihr?
Sie zog die restlichen Zeltpflöcke heraus, rollte die Bodenplane auf und faltete das Zelt zusammen, so ordentlich sie konnte. Voller Bewunderung sah sie zu, wie Martha es in einem Beutel verstaute, der eigentlich viel zu klein dafür ausgesehen hatte. Während sie zusah, fuhr sie sich mit der Hand versehentlich an die Schläfe, an die neue Narbe, die dort pochte – es war kein Schmerz, es war irgendetwas anderes, etwas, das sie nicht benennen konnte.
Und dann erkannte sie, was es war. Es war Angst. Denn trotz seines Lächelns und dem Gerede von Antworten und Erklärungen traute sie Linus nicht. Sie traute keinem von ihnen.
In Wahrheit traute sie kaum sich selbst.
»Tut dir der Kopf weh?«, fragte Martha mit einem Ausdruck von Mitgefühl.
Evie schüttelte den Kopf. »Nein. Na ja, ein bisschen. Aber es geht.« Sie wollte diese Medikamente nicht. Martha schien in Ordnung zu sein, aber Evie wollte lieber die Schmerzen fühlen, wollte lieber die ganze Wahrheit wissen, als sie mit Drogen zu verschleiern. In der Stadt gab es kaum Medikamente, denn Krankheiten hatten ihre Ursache in der Schwäche oder im Hochmut eines Menschen. Deshalb mussten Männer und Frauen ihre Krankheiten aushalten, sagte der Bruder immer, denn sonst würden sie nicht daraus lernen und nicht stärker werden.
Doch andererseits war sie nicht mehr in der Stadt, dachte Evie, und es traf sie wie ein Schlag.
»Fertig?« Linus stand plötzlich vor ihr, zusammen mit Raffy. Nach dem Schweiß auf seiner Stirn zu schließen, hatte er den Männern beim Aufladen geholfen. »Wir müssen bald los. Wenn es dunkel ist, dann sind wir zu angreifbar. Könnt ihr die da tragen?« Er hielt ihnen zwei Rucksäcke hin. Raffy wog sie in der Hand und gab einen an Evie weiter.
»Angreifbar?«, fragte Raffy, als er den Rucksack auf den Rücken schwang und Evie mit ihrem half.
»Wilde Tiere. Oder noch etwas Schlimmeres«, meinte Linus und zuckte die Achseln. »Also los. Brechen wir auf.«
Raffy streckte Evie die Hand hin und sie nahm sie dankbar.
»Wie lange wart ihr hier?«, fragte sie Linus.
»In diesem Lager? Oh, eine Woche oder so«, sagte er und trommelte die anderen zusammen.
Sie ließ sich seine Antwort durch den Kopf gehen. Aber sie verstand immer noch nicht. »Und warum wart ihr hier? Warum seid ihr nicht dort geblieben, in …«
Sie versuchte, sich an den Namen von deren Stadt, deren Heimat zu erinnern.
»In Base Camp?«, fragte Linus. Mit leichtem Kopfnicken zählte er Personen und Gepäckstücke ab, bis er zufrieden feststellte, dass alle bereit waren. »Gute Frage.« Er sah sie lächelnd an. »Aber ich werde sie erst später beantworten, wenn’s recht ist. Wenn wir euch besser kennen.« Er zwinkerte ihr zu und ging nach vorn. »Also, Leute. Auf geht’s.«