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»Du dagegen … Na ja, du bist anders«, fuhr er nachdenklich fort. »An dir liegt es nicht, dass ihr jetzt auf dieser Seite der Stadtmauer seid, oder?« Evie sagte nichts, aber Linus schien auch keine Antwort zu erwarten, er fuhr unbekümmert fort. »Du bist hier, um ihn zu beschützen, was natürlich eine Ironie ist, weil er sich für den großen Beschützer hält. Aber Schutz hat nichts mit Kraft zu tun. Da geht es um Intelligenz und Verstehen. Darum, zu wissen, wann man weglaufen muss und wann bleiben. Meinst du nicht auch?«

Evie starrte ihn an und war froh, dass es dunkel war, denn ihre Wangen waren feuerrot angelaufen. Konnte er wirklich in sie hineinsehen? Wieso wusste er immer genau, was sie dachte, obwohl sie ihre Gefühle doch tief in ihrem Herzen verbarg.

Linus lachte in sich hinein. »Er ist ein guter Junge. Das sehe ich. Aber er wird sich in große Schwierigkeiten bringen, wenn du ihn nicht daran hinderst. Du weißt, was du zu tun hast, und ich glaube, ich kann darauf zählen, dass du es tust. Genau wie Raffys Bruder auf dich gezählt hat.«

Evie fühlte sich benommen. Er wusste es. Er wusste Bescheid über Raffys Plan.

Linus drückte ihr sanft die Hand. Gleich darauf war er fort und ging zu Angel und Martha ans Lagerfeuer. Er reichte Raffy einen Teller weiter und ließ sich nieder. Evie ging hinüber und setzte sich neben Raffy. Ihr Gesicht fühlte sich immer noch heiß an. Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, weil sie nicht wusste, ob überhaupt noch irgendjemand auf sie zählen konnte. Besonders Raffy.

15

Evie versuchte, etwas zu essen, und löffelte die porridgeartige Pampe, die Martha gekocht hatte. Ihr Magen war allerdings nicht interessiert an Essen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich umzudrehen und sich zusammenzuziehen, immer wenn Raffy sie ansah oder wenn Linus ihrem Blick begegnete.

Doch obwohl sie nichts essen konnte, trotz Raffys Versuchen, sie dazu anzuhalten, wünschte sie sich, die Mahlzeit würde nie enden, Linus und Angel und Martha und auch George und Al, wie die beiden schweigsamen Männer hießen, würden nie zu Bett gehen und einschlafen, damit sie nicht dazu gezwungen wäre, sich entscheiden zu müssen. Mit Raffy zu fliehen oder ihn von der Flucht abzubringen. Ihn zu verraten oder zuzulassen, dass er in den Tod ging – ihrer beider Tod.

Linus stand als Erster auf. »Na dann, ich geh ins Bett«, verkündete er. »Ich schlage vor, dass wir uns alle gut ausschlafen.« Hatte er Evie direkt angesehen, als er das sagte? Sie war sich nicht sicher. Sie hatte das Gefühl gehabt, als würden seine Augen sich in ihre Seele bohren.

Angel ging kurz darauf. Martha räumte erst auf, unterstützt von Evie, die sich unbedingt irgendwie beschäftigen musste. Dann grunzten George und Al Gute Nacht und folgten ihr ins Zelt. Raffy stand auf.

»Schlafenszeit«, sagte er laut und gähnte. »Ich bin müde.«

Evie nickte. Er wollte, dass sie die Scharade mitspielte, aber sie konnte nicht. Stattdessen folgte sie ihm schweigend. Sie stieg über Al und George hinweg, die sich mit ihren Schlafsäcken am Zelteingang eingerichtet hatten, zu dem für sie und Raffy freigehaltenen Platz.

Dann warteten sie.

Sie warteten eine Stunde, bis ringsum nur noch tiefe Atemzüge und leises Schnarchen zu hören waren. Dann griff Raffy zu Evie hinüber und rüttelte sie kurz an der Schulter. Evie hatte sich die ganze Zeit nicht einmal getraut zu blinzeln und setzte sich sofort auf. Ihr Herz klopfte heftig.

Vorsichtig stemmte sich Raffy hoch und arbeitete sich in der Hocke langsam Richtung Zeltöffnung. Evie folgte ihm. Sie wagte kaum zu atmen oder darüber nachzudenken, was sie gerade taten und was ihnen bevorstand. Vorsichtig, ganz sachte tasteten sie sich weiter über die Schlafenden hinweg, durch die warme, stickige Luft im Zelt. Raffy stieg über Al hinweg und machte sich ans Öffnen der Verschlüsse. Da waren drei Lagen Stoff mit verschiedenen Reißverschlüssen und Vorhängeschlössern, wie bei den anderen Zelten auch. Um die wilden Tiere fernzuhalten, hatte Martha erklärt, als Evie ihr beim Abbauen geholfen hatte. Ab jetzt würden sie beide diesen Schutz nicht mehr haben.

Aber sie hätte Raffy, sagte sie sich. Sie würden zusammen sein und frei, wie sie es sich immer erträumt hatten.

Evie wollte einen möglichst großen Bogen um Linus machen und war deshalb anders gegangen als Raffy, auf Zehenspitzen hinter Marthas Schlafstelle vorbei. Nun bewegte sie sich angstvoll auf George zu. George war groß und breit und seine Gestalt nahm einen großen Bereich im Zelt ein. Sie konnte nicht über ihn hinwegsteigen. Da war nichts zu machen, ihre Beine waren nicht lang genug. Sie musste springen. Raffy blickte auf und erkannte ihre verzwickte Lage. Er drehte sich um und suchte nach einer anderen Möglichkeit für sie. Sie konnte nur genau so wieder zurück zu ihrem Schlafplatz und von dort Raffys Weg folgen. Sie atmete tief durch und sprang. Raffy riss die Augen auf vor Schreck und beide hielten den Atem an. Sie kam auf dem Boden auf, stieß leicht gegen die Zeltwand, aber niemand wachte auf. Sie lächelte. Das war ein gutes Zeichen. Es würde gut gehen.

Raffy öffnete die restlichen Verschlüsse. »Machst du es dann von außen wieder zu?«, flüsterte Evie. Er schüttelte den Kopf.

»Keine Zeit.«

»Aber dann sind sie einem Angriff schutzlos ausgesetzt«, erwiderte Evie, die schon wieder von Schuldgefühlen geplagt wurde. »Wir müssen es tun.«

»Es wird schon gut gehen«, antwortete Raffy. »Immerhin liegen sie im Zelt, oder? Sind doch selber schuld, wenn sie uns gefangen nehmen. Und als Angel mich geschlagen hat, da haben sie sich auch keine Sorgen gemacht um uns, oder?«

Evie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte er recht. Sie gab ihm die Hand und er drückte sie aufmunternd. Dann schlich sie vorsichtig hinter ihm hinaus in die kühle Nachtluft. Der Boden unter ihren Füßen war feucht – es musste inzwischen geregnet haben, aber das Land hatte das ganze Wasser gierig aufgesogen, nur ein feuchter Dunst war geblieben.

»Da lang«, befahl Raffy und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Wir müssen so weit wie möglich weg vom Base Camp.«

»Aber da geht es zurück zur Stadt«, erwiderte Evie. »Gehen wir lieber nach Norden, wie Lucas gesagt hat.«

»Und da sind wir direkt Linus in die Arme gelaufen«, fauchte Raffy gepresst.

Evie starrte ihn an. »Das konnte Lucas nicht wissen«, entgegnete sie.

»Und wenn doch? Was, wenn er wollte, dass Linus die Drecksarbeit für ihn erledigt«, sagte Raffy schneidend.

»Und was für eine Arbeit sollte das sein?«

Die beiden erstarrten, als sie die Stimme hörten, die sie nur zu gut kannten. »Glaubst du, dein Bruder hat dich verraten?«

Im Mondschein konnte Evie sehen, wie wütend und verzweifelt Raffy war. Es war ihre Schuld. Sie hätte nicht widersprechen sollen; sie wären jetzt schon längst weg. Hatte sie es mit Absicht getan? Glaubte Raffy das? Wenn ja, dann zeigte er es zumindest nicht, er sah sie nicht einmal an. Sein Blick war auf Linus gerichtet, seine ganze Energie konzentrierte sich auf ihn. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, bereit zum Losschlagen.

»Lass uns gehen«, sagte er heiser. »Ihr braucht uns nicht. Und wir brauchen euren Schutz nicht. Wir können selbst auf uns aufpassen. Lass uns gehen.«

Linus überlegte einen Augenblick lang. »Ihr wollt wirklich gehen?«, fragte er. »Euch allein durchschlagen? Evie, willst du das auch?«

Evie zögerte so lange, dass Raffy sich schließlich umdrehte und sie anstarrte. »Ja«, sagte sie. »Ich will es auch.«

Linus nickte langsam. »Ich verstehe.« Dann zuckte er mit den Schultern.

»Dann können wir also gehen?«, fragte Raffy, einen Funken Hoffnung in der Stimme. »Ihr lasst uns ziehen?«

Linus’ Augen glänzten im Mondschein. Er sah weise aus, dachte Evie bei sich, aber traurig. Seine Augen funkelten zwar, aber nicht vor Freude. Da war etwas anderes und sie erkannte es. Es war Schmerz. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Angel?«, rief er leise. Sofort erschien sein Gefolgsmann. Raffy versuchte loszurennen und schrie Evie zu, mit ihm zu kommen, aber es hatte keinen Sinn. Angel ergriff zuerst Raffy, übergab ihn Linus und packte dann Evie. Sie sah, wie Linus Raffys Gesicht auf den Boden drückte, während er ihm einen Strick um die Handgelenke band. Dann fesselte Angel Evies Hände.