»Hirnschäden? Aber …« Evie runzelte die Stirn. »Aber das stimmt nicht. Sie sind … Sie sind …«
»Natürlich«, sagte Linus mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Ihr kennt diese Menschen als die Bösen.«
16
Eine Weile sagte niemand ein Wort. Dann brach Evie das Schweigen.
»Ihr … ihr behaltet die Bösen hier? Sie sind eure Gefangenen?«
Linus schüttelte den Kopf und führte sie über einen überdachten Korridor auf einen Hof und weiter zu einer großen Ansammlung von Zelten. »Hier hinein«, sagte er. Sie traten in einen gemütlichen Raum voller Teppiche und Kissen. Am anderen Ende stand ein großer, mit grünem Leder bezogener Schreibtisch aus dunklem Holz. Evie konnte die Augen kaum davon wenden.
»Schön, nicht wahr?«, sagte Linus, als er ihren Blick bemerkte. »Das Schmuckstück habe ich retten können. Setzt euch doch bitte.«
Er ließ sich auf einem großen Kissen nieder und auch die beiden setzten sich. Linus sah sie an, als würde er in ihnen lesen, tief in ihr Inneres schauen wollen. Schließlich atmete er tief aus und fragte: »Tee?«
Evie nickte, und Linus sprang auf, steckte den Kopf hinaus, rief irgendetwas und nahm wieder Platz. Kurz darauf trug ein Mann ein Tablett mit einer Teekanne, Milch und Keksen herein. Linus schenkte ihnen ein und Evie griff dankbar nach der Tasse.
»Die Bösen sind nicht unsere Gefangenen«, erklärte Linus, nachdem er an seinem Tee genippt und die Tasse vorsichtig wieder abgestellt hatte.
»Aber …«, warf Evie ein, noch bevor sie sich daran hindern konnte.
»Wir haben ein paar Gefangene, das stimmt«, meinte Linus, »aber es ist nicht so, wie ihr denkt.«
»Wie ist es dann«, fragte Raffy und blickte Linus unerschrocken und furchtlos ins Gesicht.
Linus lächelte. »Würdet ihr ein bisschen Geduld mit mir haben?«, fragte er. »Ich würde euch gern eine Geschichte erzählen.«
»Eine Geschichte?«, fragte Raffy argwöhnisch. »Warum?«
»Weil ihr dann alles verstehen werdet«, antwortete Linus milde. »Dann werdet ihr die Welt genauso sehen wie ich.«
»Und wenn ich die Welt nicht so sehen will wie Sie?«, fragte Raffy schroff. »Sie sind ein Lügner. Sie erzählen nur lauter Lügen und jetzt erzählen Sie wahrscheinlich eine Lüge über meinen Vater. Ich habe es satt, dass die Leute mich anlügen, so satt.«
»Raphael, ich belüge dich nicht.« Linus’ Augen hatten plötzlich einen traurigen Ausdruck angenommen. »Und es tut mir leid, wenn du das denkst. Ich habe euch vielleicht nicht alles gesagt, aber das war nur zu unserem Schutz. Ich musste mir erst sicher sein, dass ihr wirklich … Ich musste vorsichtig sein, das ist alles. Aber ich werde dich nicht belügen.«
»Dann sagen Sie mir, wie Sie das mit meinem Vater gemeint haben«, sagte Raffy und sah ihn unverwandt an.
»Lass mich die Geschichte erzählen. Falls du danach noch Fragen hast, werde ich sie dir beantworten«, versprach Linus.
Raffy überdachte das für einen Augenblick; er sah argwöhnisch aus und unsicher.
»Erzählen Sie«, warf Evie ein. Sie ergriff Raffys Hand. »Erzählen Sie uns die Geschichte.«
»Danke.« Linus lächelte. »Es war einmal ein Mann. Manche hielten ihn für einen bedeutenden Mann, manche dachten anders. Er war ein Mann der Wissenschaft, er war Arzt. Er hatte eine Idee, die seiner Ansicht nach die Menschheit retten konnte. All die schönen, unglaublichen Dinge, die die Menschen geschaffen hatten, wurden ständig von Gewalt und Terror bedroht, und er wollte diese ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Er sah ein friedliches Nirwana vor sich, in dem die Menschen in Harmonie miteinander lebten, wo sie nicht mehr den Willen hatten, einander zu bekämpfen.«
»Der Große Anführer«, sagte Evie ruhig.
»Der Große Anführer.« Linus nickte nachdenklich. »Das ist eine Bezeichnung für ihn. Ich nenne ihn lieber Dr. Fisher. So hieß er nämlich vor der Schreckenszeit, vor der Stadt, vor dem allen. Unter diesem Namen hat er seine Ideen bei verschiedenen medizinischen Fachzeitschriften und auf einer Reihe von Fachkongressen eingereicht. Und wisst ihr, was passiert ist?«
»Die Leute mochten seine Ideen nicht, weil sie das Böse nicht loswerden wollten, das sie in sich trugen.«
»So kann man es auch ausdrücken.« Linus zuckte mit den Schultern. »In Wirklichkeit haben sie ihn ausgelacht und seine Theorie ins Lächerliche gezogen. Sie haben sich geweigert, seine Arbeiten zu veröffentlichen, und haben ironische Kommentare über ihn geschrieben. Sie nannten ihn Frankensteins Nachfolger. Wisst ihr, wer Frankenstein war?«
Evie und Raffy schüttelten den Kopf. »Nein, natürlich nicht.« Linus schmunzelte. »Aber das macht nichts. Dr. Fisher jedoch wollte seine Vision nicht aufgeben und bemühte sich, Menschen zu finden, die sich als Studienobjekte zur Verfügung stellten. Er wollte ihnen Teile des Gehirns entfernen. Das ist dann aber nicht so gut gelaufen. Als die Fachverbände und Strafverfolgungsbehörden das herausgefunden haben, hat er seine Zulassung verloren, und es gab ein Gerichtsverfahren, damit er weggesperrt wird. Doch das wurde er nicht – weggesperrt, meine ich. Er hat auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert und kam frei …« Er bemerkte die verständnislosen Mienen seiner Zuhörer und lächelte. »Ach ja, Gerichtsverfahren. Noch so etwas, was ihr nicht kennt. Okay, vergesst es. Kurz gesagt, er ist untergetaucht. Verschwand von der Bildfläche. Hat mit Fanatikern und Sonderlingen rumgehangen – mit Leuten, die man ebenfalls an der Umsetzung ihrer großartigen Ideen gehindert hatte und die ihn nicht ausgelacht haben. Mit Leuten wie mir.«
»Wie Sie?« Mit einem Mal hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden. »Sie haben den Großen Anführer gekannt?«
»Wir waren Freunde«, bestätigte Linus. »So was Ähnliches. Eigentlich eher Kameraden. Wir hatten beide einen Traum, eine Vorstellung, wie die Dinge sein sollten.«
»Was war Ihr Traum?«, fragte Evie atemlos. »Derselbe wie der des Großen Anführers?«
»Nein.« Linus schüttelte den Kopf. »Aber …« Er atmete tief durch. »Wollt ihr meine Idee sehen?«
Beide nickten.
»Gut. Dann kommt mit.«
Er sprang leichtfüßig auf und ging aus dem Raum. Evie und Raffy wechselten einen Blick und folgten ihm über den Hof, wieder vorbei an dem Zelt mit den Bösen und über einen zweiten Hof in ein bewachtes Gebäude. Er führte sie durch die Tür und über einen Korridor bis in einen riesigen Raum voller Computer.
Raffy blickte sich ehrfürchtig um, während Evie eher unsicher dreinblickte. Es war warm und überall summten und brummten die Computer.
»Ihr habt so viele«, wunderte sie sich. »Wie habt ihr die alle hierher bekommen?«
»Das sind meine Babys«, sagte Linus mit einem Ausdruck voller Zuneigung, ja fast Liebe, und seine Augen leuchteten. »Meine Idee war ein System. Ein System, das die Welt besser machen konnte, geordneter, zu einem Ort, wo niemand mehr ein Verlangen nach etwas hatte, weil das System das Verlangen schon vorweggenommen hat. Wo niemand hungerte oder in der Schule schlecht abschnitt, wo niemand unterdrückt wurde, und wo jeder den Partner fand, den das Schicksal ihm bestimmt hat. Durch das System.«
»Du meinst … so wie das System in der Stadt?«, fragte Evie voller Zweifel.
Linus seufzte und sein Blick verdüsterte sich. »So hätte das System der Stadt sein sollen. Das System, das ich entworfen habe. Das ich aufgebaut und eingerichtet habe.«
»Sie haben das System aufgebaut«, fragte Raffy ungläubig.
»Ich habe es aufgebaut«, bestätigte Linus. »Und ich bedauere das zutiefst. Ich …« Er seufzte. »Ich werde mir das nie verzeihen.«
Raffy ging näher an die Geräte heran. »Darf ich?«
»Natürlich«, sagte Linus.
Raffy ging an den ersten Computer, legte die Hände auf die Tastatur und fing an zu tippen. In der Anzeige erschienen Datenfelder, Reihen von Buchstaben und Zahlen, die Evie nichts sagten.
»Das ist Ihr System?«, fragte Raffy.
Linus nickte, und zum ersten Mal schien er selbst angespannt, ja besorgt zu sein, fast so als hätte er Angst vor irgendetwas.