»Wow«, sagte Raffy leise. »Das ist … das ist unglaublich.«
Linus grinste, und mit einem Mal sah er fast aus wie ein kleiner Junge, trotz der vielen Falten, die sein Gesicht durchzogen. Und Evie erkannte, dass es nicht Angst gewesen war. Linus wollte Raffys Anerkennung, deshalb die aufeinandergepressten Kiefer und die gerunzelte Stirn.
»Was macht es?«, fragte sie.
Raffy drehte sich um und zog einen Stuhl heran. »Siehst du diese Codes? Jeder steht für einen Menschen und ist verlinkt mit Bedürfnissen, Sehnsüchten, ersten Grades, zweiten Grades und so weiter … alles geordnet nach Priorität und dann in Beziehung gesetzt zu den Ressourcen der Gemeinschaft, zur Zeit der Leute … Es ist unglaublich«, wiederholte er.
»Manches ist ganz gut gelungen«, meinte Linus bescheiden.
»Aber …« Raffy drehte sich auf dem Stuhl herum. »Warum gibt es hier keine Ränge? Wenn Sie doch das System der Stadt aufgebaut haben?«
»Ich habe das ursprüngliche System aufgebaut«, erklärte Linus, und sein Mund zuckte nervös. »Nicht das System, das es heute gibt. Ich habe kein System aufgebaut, das die Menschen kennzeichnet oder das sie bestraft oder das …« Er blickte zu Boden. »Das System, das ich entworfen habe, ist nicht das, das es in eurer Stadt gibt. Das wurde später aufgebaut, von anderen Leuten. Nach meinem Vorbild. So ist das manchmal mit Träumen, wisst ihr – sie werden leicht verzerrt. Keiner träumt denselben Traum, und wenn Träume Wirklichkeit werden, dann sind sie nie das, was man erwartet hat, nie das, was man erhofft hat.«
Er wandte sich ab. Evie stand auf und trat neben ihn.
»Und was ist mit dem Traum des Großen Anführers? Der wurde doch nicht verzerrt, oder?«
»Nicht verzerrt?« Linus sah sie an und schüttelte traurig den Kopf. »Ihr wisst wirklich gar nichts, oder?«
Evie legte die Stirn in Falten und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Allmählich hatte sie genug von Linus’ verschlungenen Geschichten, die nie das brachten, was er versprochen hatte. »Doch. Wir wissen eine ganze Menge. Und wenn wir nicht alles wissen, dann liegt das daran, dass Sie es uns nicht erzählen wollen.«
Linus sah sie nachdenklich an. »Okay. Setz dich. Ich erzähle dir jetzt alles über den Traum des Großen Anführers, ja?«
Evie nickte und nahm wieder neben Raffy Platz, der sich nur widerstrebend vom Computerbildschirm losreißen konnte.
Linus atmete tief durch. »Wieder zurück zu der Geschichte. Da waren wir also, Dr. Fisher und ich. Wir haben einen Haufen Kaffee getrunken und fantasiert, dass die Welt viel besser sein könnte, wenn man nur uns die Sache in die Hand geben würde. Und dann ist die Schreckenszeit losgegangen. Wisst ihr, warum man es die Schreckenszeit nennt?«
»Weil es ein Krieg war, und Krieg ist voller Schrecken«, sagte Evie.
Linus verzog das Gesicht. »Kriege hatte es auch schon vorher gegeben. Jede Menge Kriege, jede Menge Tod, Grausamkeit und Zerstörung. Das hat nie irgendetwas aufgehalten. Die Schreckenszeit wurde so genannt, weil die Soldaten alle Kinder waren und weil man mit den Bomben nur auf die Zivilbevölkerung gezielt hat. Es gab keine Gefechte, keine Strategie, nur gnadenloses Abschlachten, ohne dass ein Ende in Sicht war. Die Menschen, die ihn angefangen hatten, haben nicht für ein bestimmtes Ziel gekämpft; es ging ihnen nur darum, alles und alle zu zerstören, und das ist ihnen auch beinahe gelungen. So einen Feind kann man nicht bekämpfen und man kann sich auch nicht vor ihm verstecken.«
»Aber Sie haben sich versteckt«, sagte Raffy, und seine Augen verengten sich. »Sonst wären Sie jetzt nicht hier, oder?«
Linus lachte. »Kluger Junge. Ja, ich habe mich versteckt, genau wie Dr. Fisher. Wir waren ja schon jahrelang im Untergrund gewesen; für uns war das nichts Neues. Als wir allmählich begriffen haben, was da vor sich ging, erkannten wir unsere Chance. Denn die einzige Möglichkeit, den Schrecken zu verstehen, dafür zu sorgen, dass er einen Sinn bekam, lag darin, eine neue Welt des Friedens und der Hoffnung aufzubauen. Eine Welt, wo die Menschen nicht mehr böse waren, wo man sich um ihre Bedürfnisse kümmerte und wo sie sich entspannen und einfach nur leben konnten, statt jede Minute Angst zu haben. Das war alles, was wir wollten. Das war alles, was wir umzusetzen versucht haben …«
Seine Stimme versagte und er räusperte sich. »Also haben wir die Stadt aufgebaut.«
»Sie?«, meinte Raffy ungläubig.
»Ich und Dr. Fisher«, bestätigte Linus.
»Aber warum wird Ihr Name nie erwähnt?« Raffy sah ihn zweifelnd an. »Warum kommen Sie in den Betrachtungen nicht vor?«
»Die Betrachtungen?« Linus lachte. »Glaubst du diesen Mist etwa?«
Evie war schockiert. Sie wurde von Furcht erfasst. Sie versuchte, sie wegzudrängen, doch sie schaffte es nicht. Nicht gänzlich.
Linus bemerkte ihre Reaktion. »Keine Sorge, euer System kann mich nicht hören. Es kann gar nichts mehr hören. Nicht mehr.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Raffy unsicher.
Linus seufzte. »Kann ich meine Geschichte zu Ende erzählen?«
Raffy zuckte mit den Schultern. »Nur zu. Erzählen Sie.«
»Danke«, sagte Linus mit gespielter Ehrerbietung. »Wir hatten also einige Anhänger. Die Schreckenszeit war vorbei und alle kämpften um Essen, Wasser, das Nötigste eben. Die Welt zerfiel in Chaos und in lauter Stammeskriege. Also haben Dr. Fisher und ich unsere Vision verkündet und die Menschen haben es uns abgekauft. Sie wollten einen anderen Weg, einen Neuanfang. Wir haben das besiedelt, was vor der Schreckenszeit London war, haben die Gebäude, die noch standen, und die verbliebenen Ressourcen übernommen. Da war ein Fluss. Damit hatten wir die Basis, auf der wir aufbauen konnten. Und wir hatten Männer, die uns helfen konnten. Sie haben die Mauer gebaut und Häuser, stoisch und unermüdlich, weil sie an uns geglaubt haben und an den Traum, den wir ihnen versprochen hatten. Ich habe angefangen, das System aufzubauen. Und Fisher …«
Er schluckte und sein Blick sprang unbehaglich hin und her.
»Und Fisher?«, half Raffy nach.
Linus starrte wieder zu Boden. »Dr. Fisher hat angefangen zu operieren.«
»Die Amygdala entfernen. Die Neutaufe«, sagte Evie. »Das wird bei jedem in der Stadt gemacht.«
»Das machen sie wirklich?«, fragte Linus mit sarkastischem Unterton.
»Ja«, sagte Raffy stirnrunzelnd. »Das wissen Sie doch.«
Linus schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass alle, die er operiert hat, danach willenlos dahinvegetiert haben. Aber er wollte das nicht zugeben. Er hat darauf beharrt, dass die Methode funktionieren würde, dass sie vorher schon funktioniert hätte, und als ich hinter die Wahrheit kam, da hatte er lauter Ausreden – schuld war die Ausrüstung, oder seine Helfer, alles Mögliche. Er hat mir gesagt, beim nächsten Mal würde es bestimmt klappen, dann wieder beim nächsten Mal. Und immer so weiter und ich habe ihn nicht aufgehalten. Erst als es zu spät war. Erst als …«
Er brach ab; es fiel ihm offenbar schwer, weiterzuerzählen.
»Aber es hat doch funktioniert«, widersprach Evie. »Wir sind kein dahinvegetierendes Gemüse.«
»Nein«, räumte Linus ein, »aber ihr habt auch noch nicht die Neutaufe erhalten.«
»Doch, das haben wir«, meinte Evie hitzig. »Dass wir geflohen sind, heißt noch lange nicht, dass wir böse sind oder dass wir keine Neutaufe erhalten haben, denn das haben wir. Ich weiß es ganz genau. Wir haben doch die Narben. Die, die Sie selbst aufgemacht haben, als Sie uns gefangen genommen haben.«
Linus antwortete nicht, er schaute sie nur traurig an.
»Aber …« Raffy fuhr sich, genau wie Evie, mit der Hand über die Narbe an der Schläfe. Seine Augen blitzten vor Wut. »Warum hat er weitergemacht? Warum hat man ihn gelassen?«
»Weil wir schwach waren. Weil wir seine Ausreden hingenommen haben. Weil wir uns den Erfolg genauso gewünscht haben wie er. Er hat allen gesagt, die Operation würde nicht klappen, wenn die Patienten zu viel Böses in sich hätten«, sagte er bedauernd. »Und die, die er mit seinen Experimenten zu dahinvegetierenden Wesen gemacht hat, die hat er versteckt. Wir haben sie versteckt.« Er vergrub das Gesicht in den Händen, dann sah er wieder auf. »Versteht ihr nicht? Die Leute, die euer Großer Anführer operiert hat … das sind die Bösen, vor denen ihr alle solche Angst habt. Er hat sie erschaffen. Das waren diejenigen, die an ihn geglaubt haben, die für ihn gearbeitet haben. Und er …« Linus stand auf, ging ein paar Schritte, beugte sich vor und stützte für einige Sekunden die Hände auf die Knie. Dann kam er zurück, offenbar bereit, fortzufahren.