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»Schließlich hat er aufgehört. Er musste. Aber die Menschen glaubten an die Neutaufe, sie brauchten sie, damit sie daran glauben konnten, dass das Böse ausgemerzt war. Und deshalb …« Er trat von einem Fuß auf den anderen und sah ihnen nicht in die Augen. »Und deshalb wurde die Neutaufe nur noch vorgetäuscht. Jeder glaubte, dass er sie erhalten hätte. Ein kleiner Schnitt an der Schläfe … das dachte ich zumindest …« Er seufzte. »Wichtig war nur, dass die Leute überzeugt waren. Und es hat sogar gewirkt – durch den Placebo-Effekt.«

»Placebo?«, fragte Evie und zog die Nase kraus.

»Du sagst jemandem, dass er ein Medikament bekommt und dass es ihm dann besser geht, auch wenn du ihm nur Sägemehl gegeben hast«, erklärte Linus. »Oder du sagst den Leuten, sie sind nicht fähig zum Bösen, und sie glauben auch das.«

»Dann hat also keiner von uns eine Neutaufe bekommen?« Evie fasste sich unwillkürlich an den Kopf. Ihre Gedanken rasten. Konnte das wirklich stimmen? Die ganze Zeit war sie voller Angst gewesen, ihre Amygdala könnte wieder nachwachsen, und dabei war sie nie entfernt worden? Auch nicht bei ihren Eltern? Bei niemandem?

»Nicht einmal der Bruder? Und auch nicht die As?«

»Vor allem nicht der Bruder«, sagte Linus finster. »Und was die As angeht …« Er atmete tief aus. »Damals gab es noch keine As. Das System war nicht dazu aufgebaut worden, um die Leute einzuteilen oder ein Urteil über sie zu fällen. Es sollte dafür sorgen, dass sie das hatten, was sie brauchten, und dass ihr Leben erfüllt war.«

»Dann hat also gar niemand die Neutaufe erhalten?« Es fiel Evie immer noch schwer, damit klarzukommen.

»Gar niemand. Natürlich war Fisher nicht begeistert, dass er nicht operieren durfte. Er war überzeugt, dass er es irgendwann schaffen würde, wenn er es nur weiter versuchen könnte. Er hat anscheinend nicht verstanden, dass er das Leben der Leute zerstörte. Wir mussten ihn aufhalten, ihn einsperren. Der Bruder – damals hieß er einfach Mark – hat uns sehr geholfen. Ich dachte, er wäre ein Freund. Ich … ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Und er war großartig. Hatte jede Menge Ideen. Er wollte den Placebo-Effekt durch spirituelle Versammlungen verstärken; er wollte der geistige Führer der Stadt sein und dafür sorgen, dass die Menschen auf dem rechten Weg blieben. Er und ich waren die Einzigen, die wussten, dass die Neutaufe nicht echt war, die Einzigen, die überhaupt irgendetwas wussten. Aber dann …«

»Dann?«, half Evie nach.

Linus stand auf und ging im Raum auf und ab. »Ich hatte ein Team von Leuten, die sich mit dem System auskannten. Ich hatte alle selbst angelernt. Es war mein System. Alles andere war mir egal. Aber er konnte es einfach nicht lassen; er konnte der Macht nicht widerstehen, die es ihm verliehen hat.« Seine Stimme war bitter geworden, sein Gesicht mit einem Mal wutverzerrt.

»Der Bruder?«, fragte Evie nach und spürte das vertraute Prickeln von Angst im Nacken, das unbehagliche Gefühl, unzulänglich zu sein, nie gut genug zu sein, das sie immer überkam, wenn sein Name genannt wurde.

»Der Bruder«, bestätigte Linus. »Er wollte alles kontrollieren. Er hat Veränderungen vorgenommen, ohne es mir zu sagen. Er hat die Rangordnung eingeführt – A, B, C und D. Er hat gesagt, das sei unabdingbar, um die Ordnung aufrechtzuerhalten; andernfalls müsste er den Leuten reinen Wein einschenken über die Neutaufe. Und ein Stück weit habe ich mitgemacht. Ich dachte, er würde nur das Beste wollen. Wir hatten uns darüber unterhalten, mehr Menschen in die Stadt zu lassen. Die Bevölkerung wuchs nicht schnell genug und wir brauchten mehr Leute. Also haben wir die Kunde verbreitet, dass man bei uns sicher leben konnte und dass Neuankömmlinge willkommen waren. Und es kamen Tausende, denn nach der Schreckenszeit gab es viele verzweifelte Menschen. Schon das nackte Überleben zu sichern war schwierig, fast unmöglich. Sie dachten, sie kämen zu ihrer Rettung. Und ich war daran beteiligt. Ich habe mitgeholfen, es weiterzusagen.«

Evie schloss die Augen. Sie fühlte die Wärme an der Brust ihres richtigen Vaters, empfand wieder die hoffnungsvolle Stimmung, als sie auf die Stadt zumarschierten.

»Aber sie haben nur die Kinder genommen«, flüsterte sie, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Raffy sie besorgt anschaute.

Sie brachte ein Lächeln zustande, um ihn zu beruhigen. Dann wandte sie sich an Linus. »Und was ist mit ihnen passiert? Mit meinen richtigen Eltern? Haben sie sie getötet?« Ihre Stimme war tonlos, so als ob es ihr gleichgültig wäre, aber sie konnte diese Fragen nicht anders stellen, musste ihre Gefühle tief in sich vergraben, damit die sie nicht auffraßen.

Linus blickte sie verzweifelt an. »Das wusste ich nicht«, murmelte er. »Dass du auf diesem Weg gekommen bist. Das wusste ich nicht.«

»Und?« Evie ließ nicht locker.

Linus wich ihrem Blick aus. »Das war der Handel, den der Bruder mit Fisher gemacht hat, im Gegenzug für die Macht. Fisher – euer Großer Anführer – durfte die Erwachsenen operieren, die kamen. Er durfte Menschen schlachten und der Bruder … Na ja, der bekam etwas anderes. Eine Armee von Bösen, um die Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen, um sie zu versklaven und um ihnen so Angst zu machen, dass sie alles taten, was der Bruder von ihnen wollte.«

Evie schluckte schwer und drängte die Tränen zurück, die ihr in den Augen brannten. »Meine Eltern sind Böse«, sagte sie stattdessen. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Die Menschen, vor denen sie sich so lange gefürchtet hatte, waren ihre eigenen Eltern. Die sich tagelang dahingeschleppt hatten, um ihr eine bessere Zukunft zu bieten.

»Und Sie halten sie hier eingesperrt? Haben Sie meine Eltern hier?« Sie fuhr herum und ihre Augen blitzten mit einem Mal.

Linus schüttelte den Kopf. »Nein, Evie. Hier sind nur ein paar. Die paar, die wir retten konnten. Die meisten … Die meisten werden in der Stadt gefangen gehalten. Ein paar Kilometer vor der Stadt ist ein Lager. Da hält man sie fest. Da hat der Bruder sie eingesperrt.«

Evie nickte angespannt. »Und deshalb sind Sie gegangen?«

Linus seufzte tief. »Ich wünschte, ich hätte es getan. Damals hätte ich gehen sollen. Aber ich wollte nicht sehen, was da vor sich ging. Ich wollte mein System aufbauen, wollte es perfektionieren. Ich habe mir eingeredet, dass die Methoden des Bruders nur vorübergehend sind, dass sie notwendig sind. Ich habe mir eingeredet …« Er beendete den Satz nicht, er sah gequält aus.

»Was war es dann?«, fragte Evie schneidend. »Dass meine Eltern abgeschlachtet wurden, war es nicht. Was war dann der Grund, dass Sie gegangen sind?«

Linus sah zu ihr auf, dann senkte er gedemütigt den Blick wieder. »Zwei Dinge. Zuerst ist Fisher verschwunden.«

»Der Große Anführer?« Evie erschauerte unwillkürlich.

Linus nickte. »Der Bruder hat mir gesagt, dass er geflohen wäre, aber das habe ich ihm nicht geglaubt. Ich hatte den Verdacht … dass da etwas faul war.«

»Sie glauben, er hat ihn umgebracht?«, fragte Raffy argwöhnisch.

Linus nickte. »Das war meine Schlussfolgerung.«

»Also haben Sie den Bruder zur Rede gestellt?« Raffy beugte sich vor und seine Augen ließen zum ersten Mal Interesse erkennen.

Linus’ Gesicht zuckte leicht. »Nein.« Er sah wieder zu Boden. »Zu meiner Schande. Ich dachte, er wüsste, was er tut. In gewisser Weise war ich sogar erleichtert.«