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»Erleichtert, dass er den Großen Anführer getötet hat?« Evie rang nach Atem.

»Ich bin nicht stolz auf mich. Aber ich war froh, dass ein so gefährlicher Mann aus dem Spiel genommen war«, antwortete er leise.

»Und was hat sich noch geändert?«, wollte Raffy wissen. »Was war das Zweite?«

Linus’ Züge verhärteten sich. »Ich habe herausgefunden, dass die falsche Neutaufe viel teuflischer war, als ich dachte. Er nutzte die kleine Operation dazu, den Leuten einen Chip in den Kopf einzupflanzen. Der Chip, von dem ich euch schon erzählt habe. Einen Chip mit Peilsender, mit dem die Leute geortet werden können. Einen Chip, der mit dem System verbunden ist. Mit meinem System. Also habe ich ihm gesagt, es reicht. Ich habe ihm gesagt, dass er aufhören muss, dass ich allen sage, dass das mit der Neutaufe gelogen war, dass das mit den Bösen gelogen war, dass das aber nichts macht, weil wir trotzdem noch die Stadt haben könnten, von der sie geträumt haben.«

Linus blieb stehen.

»Und?«, fragte Raffy vorsichtig.

»Und das war mein letzter Tag in der Stadt. Da hat der Bruder einen neuen Rang eingeführt. Rang K. Er hat gesagt, der wäre für die Leute, bei denen die Amygdala nachgewachsen sei. Aber das stimmte nicht. Er war für die Leute, die er zu Feinden des Regimes erklärt hatte. Für die Leute, die eine Bedrohung für ihn waren. Für die Leute, die er schleunigst loswerden musste. Es hieß, die Ks würden zu einer zweiten Neutaufe weggebracht, aber das war genauso gelogen wie der ganze Rest. K steht für Killable – wie ihr ja wisst. Der Bruder wollte mich aber nicht selbst töten; er wusste, dass irgendjemand es schließlich herausfinden würde. Also hat er allen gesagt, ich würde neu konditioniert. Dann hat er mich vor der Stadtmauer gefesselt und darauf gewartet, dass die Bösen mich umbringen – die Bösen, von denen er immer behauptet hatte, dass er gut für sie sorgt, die in Wahrheit aber unter unsäglichen Bedingungen eingesperrt waren und behandelt wurden wie Tiere.«

»Aber sie haben Sie nicht getötet«, flüsterte Evie. »Sie sind immer noch hier.«

»Nein, sie haben mich nicht getötet.« Linus wandte sich zu Raffy hin. »Sie haben mich nicht getötet, weil dein Vater gekommen ist und mich befreit hat. Dein Vater hat mir das Leben gerettet.«

17

»Mein Vater?« Evie erkannte Raffys Stimme fast nicht mehr wieder. »Mein Vater hat Ihnen das Leben gerettet?«

»Ja, mein Sohn«, antwortete Linus. »Er war von Anfang an dabei, er hat die Stadt mitaufgebaut, er hat mir beim Aufbau des Systems geholfen. Er hat an die Sache geglaubt. Aber auch er hat gemerkt, dass die Zeiten sich geändert hatten. Er war ein besonnener Mann, der nicht so leicht die Beherrschung verloren hat wie ich. Er hatte so eine Ahnung wegen der Neutaufe, und er war nicht einverstanden mit dem, was der Bruder mit dem System gemacht hat. Dass es dazu benutzt wurde, die Leute zu überwachen und ihnen Angst zu machen, statt dazu, ihnen zu helfen. Er hat herausgefunden, dass der Bruder seine Leute auf mich gehetzt hat, und er hat für meine Flucht sein Leben aufs Spiel gesetzt. Damals war das noch leichter; ich hatte ja noch keinen Ortungschip im Kopf. Aber dein Vater wusste, wie sehr der Bruder meinen Tod wollte, und er hat alles getan, damit das nicht passiert. Und eines Tages werde ich ihm zeigen, wie dankbar ich ihm bin.«

»Ich war vier Jahre alt, als mein Vater zum K erklärt wurde.« Raffy wirkte plötzlich stärker, so als wenn sein Rücken ein kleines bisschen gerader wäre. »Wenn K wirklich Killable heißt, dann …«

»Dein Vater wurde zum K erklärt? Nein, das ist unmöglich«, erwiderte Linus. »Völlig unmöglich.«

»Nicht unmöglich«, widersprach Raffy mit leiser Stimme. »Ich muss es schließlich wissen.«

»Aber …« Linus’ Gesicht legte sich in Falten vor Verwirrung. »Aber ich weiß, dass er am Leben ist.«

»Und ich weiß, dass er es nicht ist«, sagte Raffy. »Man hat ihn abgeholt. Ich weiß es noch wie heute. Die Polizeigarde kam zu uns nach Hause, um ihn zu holen. Sie haben gesagt, dass er gefährlich ist und dass er neu konditioniert werden muss. Und er würde nie wieder zurückkommen, weil er schwach ist und weil das Böse in ihm zu stark ist. Meine Mutter war auch dabei. Sie hat gezittert. Sie hat mir gesagt, ich soll gut sein, sonst würden sie mich als Nächsten holen. Sie hat gesagt …«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er zitterte am ganzen Körper. Evie streckte ihm die Hand hin und er hielt sie krampfhaft fest. Auch sie erinnerte sich an diesen Abend … daran, wie Raffy sich danach verändert hatte. Alles hatte sich verändert.

Linus schwankte. Trauer, Schuld, Wut, alles war tief in seine Gesichtszüge eingegraben.

»Du warst vier?«, fragte er. »Dann ist das so ungefähr zwölf Jahre her?«

»Dreizehn«, sagte Raffy abwehrend.

»Dreizehn, also fünf Jahre nach meiner Flucht.« Linus verschränkte die Arme und ging wieder eine Weile auf und ab. Dann kam er zurück zu Raffy und blieb direkt vor ihm stehen. »Aber wenn dein Vater tot ist«, sagte er dann, und in seinem Gesicht spiegelte sich Angst, und seine Augen blickten Raffy eindringlich an, »wer hat mir dann die ganzen Jahre über Nachrichten geschickt? Wer hat mir dann gesagt, ich soll nach dir Ausschau halten? Wer hat mich alarmiert, wenn jemand zum K erklärt wurde, damit ich als Erster dort war und die Leute in Sicherheit bringen konnte?«

Evie sah ihn an. »Also, dann seid ihr … ihr seid alle Ks? Alle?«

»Fast alle.« Ein Schatten fiel über Linus’ Gesicht. »Wir kommen nicht immer rechtzeitig. Manchmal sind die Bösen …« Die Stimme versagte ihm und er räusperte sich. »Und manchmal können wir nichts machen«, fuhr er schließlich fort. »Sonst erwischen sie uns auch. Und dann …« Er sah aus, als wenn er sich schüttelte. »Das Entscheidende ist, dass dein Vater mir von dir erzählt hat. Er hat gesagt, ich soll nach dir suchen. Wie hätte er das können, wenn er tot ist?«

»Sie wussten von uns?«, fragte Evie ungläubig. »Sie wussten, dass wir aus der Stadt geflohen sind? Aber warum haben Sie uns dann gefangen genommen? Warum haben Sie Raffy verprügeln lassen?«

Er hob die Brauen. »Das waren keine Prügel. Das war nur, damit ihr nicht versucht, zu fliehen. Ich wollte euch erst hierherbringen und sicher sein, dass die Polizeigarde die Suche aufgegeben hat.« Er wandte sich wieder an Raffy. »Von wem stammen dann diese Botschaften? Ich muss das wissen.« Er packte Raffy an der Schulter und starrte ihn an.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Raffy hilflos. »Aber ich habe ein Kommunikationsprogramm gefunden.«

»Du hast das Kommunikationsprogramm gefunden? Dann ist es aufgeflogen?« Linus’ Augen weiteten sich vor Furcht.

»Deshalb haben sie ihn doch zum K erklärt«, sagte Evie ruhig.

»Und wann bist du darauf gestoßen? Und wie? Wem hast du davon erzählt?«

»Ich habe eine Panne entdeckt. Nur dass es keine Panne war. Ich habe Wartungsarbeiten am System vorgenommen und bin dabei auf einen seltsamen Programmcode gestoßen und auf irgendwelche Aktivitäten, die ich mir nicht erklären konnte«, sagte Raffy unbehaglich. »Und Sie meinen, mein Vater hätte das dort eingebaut? Dass er auf diese Weise mit Ihnen in Verbindung gestanden hat? Und ich habe das alles kaputt gemacht?«

Linus schien Raffy gar nicht zu hören, sie beide gar nicht wahrzunehmen. »Aber das ergibt überhaupt keinen Sinn«, flüsterte er und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war immer noch voller Sorge. »Letzte Woche bist du darauf gestoßen? Wer hat dann Verbindung mit mir aufgenommen? Wer ist an die Stelle deines Vaters getreten?«

Evie sah erst Linus an, dann Raffy, dann trat sie einen Schritt vor, denn sie wusste, sie verstand mit einem Mal alles.

»Lucas«, sagte sie ruhig. »Er wusste Bescheid. Die ganze Zeit. Er gehört zwar zur Regierung, aber er hat mir das mit Raffy erzählt. Er hat gesagt, Raffy müsste fliehen.«

»Lucas?«, schnaubte Raffy. »Der hat doch allen erzählt, dass ich verrückt bin und dass ich nichts weiter gefunden habe als eine unbedeutende Panne und dass ich Wahnvorstellungen hätte …« Und noch während er sprach, wurde ihm bewusst, was er da sagte, wurde ihm bewusst, was Lucas die ganze Zeit getan hatte. »Lucas?«, murmelte er. »Lucas? Die ganze Zeit?«