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»Dann gehen wir zurück?«, fragte Evie mit klopfendem Herzen.

»Nein, das tun wir nicht«, erwiderte Raffy. »Ich habe versprochen, dass wir nie mehr dorthin zurückgehen. Das habe ich Evie geschworen.«

»Aber ich will zurück«, beharrte Evie mit leiser Stimme.

Raffy starrte sie an. »Du willst zurück?«

»Dann wäre das ja geklärt«, rief Linus aus. »Wir haben lange gewartet, aber ich glaube, wir sind jetzt bereit.«

»Bereit wofür?«, fragte Raffy.

»Bereit, den Tod deines Vaters zu rächen. Bereit, den Bruder als das zu entlarven, was er in Wahrheit ist. Bereit, Lucas zu retten, die Bewohner der Stadt zu befreien und die Stadt zu dem zu machen, was sie schon immer hätte sein sollen.«

»Aber die Polizeigarde …«, protestierte Raffy. »Wie sollen wir …«

»Mach dir über die Polizeigarde keine Gedanken«, unterbrach ihn Linus. »Wir nehmen ein paar Freunde mit.«

»Freunde?«, fragte Evie. »Was für Freunde?«

»Die Bösen.« Linus lächelte. »Jetzt kommt; wir haben noch einiges zu tun.«

18

Es ist kalt und es ist dunkel. Sie spürt fremde Arme um sich; ihre Kehle ist ganz heiser vom Schreien und sie ist jetzt still. Sie merkt noch, wie ihr Kopf nach vorn sinkt, wie ihr die Augen zufallen. Sie will schlafen. Doch sie zwingt sich, die Augen wieder zu öffnen. Sie darf jetzt nicht schlafen – sie weiß es.

Eine Tür geht auf und Licht fällt herein. Als die Tür sich hinter ihnen schließt, ist sie von einer erstickenden Wärme umhüllt. Sie wird abgesetzt, sie sitzt auf einem Stuhl. Leute sehen sie an, eine Menge Leute, sie weiß nicht, wie viele. Sie starren sie an, schieben sich vorwärts. Sie sieht die Menschen nicht an. Sie sieht auf ihre Füße; das hat sie sich angewöhnt. Nur Blickkontakt aufnehmen, wenn man weiß, was vor sich geht, wenn man sich sicher fühlt. Sie hat schon viel Gewalt mitangesehen; sie hat gesehen, wie Menschen vor ihren Augen getötet wurden, hat gesehen, wie Wilde das Fleisch von toten Menschen gegessen haben. Ihre Eltern haben ihr gesagt, sie hätte sich das nur eingebildet, aber sie ist sehr verständig für ihr Alter. Sie weiß Bescheid.

»Delphine, Ralph«, ruft ein Mann. »Kommt ihr bitte mit?« Ein Paar löst sich aus der Menge und geht auf ihn zu. Sie reden im Flüsterton miteinander. Dann kommen sie zu Evie.

»Evangeline?« Der Mann spricht als Erster. Er geht vor ihr in die Hocke. »Evangeline, ich bin so froh, dass du hier bist. Ich bin dein Vater. Und das hier ist deine Mutter. Wir haben auf dich gewartet.«

Evie ist erschrocken. Sie war auf einiges gefasst, aber nicht auf das. Sie bricht ihre Regel und sieht auf. Sieht ihnen in die Augen.

»Mein Vater«, sagt sie. »Mein Vater ist …« Sie weiß nicht, wie sie den Satz beenden soll, weiß nicht, wo ihr Vater ist.

»Ich bin dein Vater, Evangeline«, sagt der Mann sanft, aber bestimmt. »Der Mann, mit dem du gekommen bist, um den kümmert man sich. Er braucht unsere Hilfe, und du willst doch, dass wir ihm helfen, oder? Du willst, dass wir allen Menschen helfen, die mit dir gekommen sind.«

Sie nickt. Die Wärme dringt ihr bis in die Knochen, sie ist berauschend. Schon lange ist ihr nicht mehr so warm gewesen.

»Hast du Hunger, Evie? Sollen wir etwas essen gehen?«

Dieses Mal hat die Frau gesprochen; ihr Blick ist forschend und macht Evie verlegen. Evie nickt wieder. Die Frau sieht erfreut aus. Sie streckt die Hand aus, und Evie nimmt sie.

»Gut«, sagt der Mann, der sie hereingetragen hat. »Gut. Jetzt wartet bitte hier. Da sind noch mehr. Bitte habt Geduld …«

Evie erwachte und blickte sich um. Sie lag in einem ziemlich kleinen Zelt mit cremefarbenen Wänden und Zeltdach, auf einer Matratze mit Baumwolllaken. Neben ihr lag Raffy, immer noch in tiefem Schlaf, und gab mit seinen gleichmäßigen Atemzügen einen ruhigen Rhythmus vor. Sie waren allein. Seit sie hier angekommen waren, war nicht mehr die Rede gewesen von Gefangenschaft, keine Fesseln mehr, keine Drohungen. Und doch hatte Evie jetzt mehr Angst als je zuvor – nicht um sich selbst. Seit sie die Wahrheit über ihre Vergangenheit erfahren hatte, sorgte sie sich kaum mehr um ihre Zukunft. Sondern um die anderen … Raffy, Lucas …

»Morgen.« Raffy schlug die Augen auf, mit dem gewohnten schiefen Grinsen im Gesicht, sodass Evie unwillkürlich lachen musste. Mit diesem Grinsen war sie jahrelang in ihrem Baum begrüßt worden, dieses Grinsen hatte sie, so kam es ihr vor, fast ihr ganzes Leben lang beruhigt, getröstet und geneckt. Raffy war das einzig Beständige gewesen, der Einzige, auf den sie sich verlassen, mit dem sie offen sprechen und dem sie sich anvertrauen konnte. Doch jetzt, hier, jenseits der Stadtmauer, wo sie sein konnten, wer sie wollten … Da fühlte es sich irgendwie anders an.

»Schau«, sagte er und lächelte. »Wir sind ganz allein.«

Er packte sie, zog sie an sich und schlang die Arme um sie. Doch sie drehte den Kopf weg, sodass sein Gesicht ihren Nacken berührte anstatt …

Anstatt ihre Lippen?

Sie runzelte die Stirn. Früher, in der Stadt, da hatten sie sich die ganze Zeit geküsst. Küsse, die voller Hoffnung waren, voller Verzweiflung und Sehnsucht. Küsse, die sie miteinander verbanden, selbst wenn sie auseinandergerissen wurden. Küsse, die von ihrem Zusammenhalt sprachen, von ihrem festen Glauben aneinander und von ihrem Aufbegehren gegen das Leben, das ihnen vorgeschrieben war.

Aber seit sie hier waren, seit sie in Base Camp angekommen waren, hatten ihre Lippen sich noch nicht einmal flüchtig gestreift.

Evie wusste, dass das nicht Raffys Schuld war; dass nicht er im letzten Moment den Kopf wegdrehte, das Thema wechselte, sich stattdessen in eine Umarmung flüchtete oder einen Scherz machte. Doch sie wusste nicht, warum sie das tat.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sie hatte davon geträumt, einmal so mit Raffy dazuliegen, hatte von einer Welt geträumt, in der so etwas möglich war. Jetzt aber empfand sie seine Arme um sie herum mit einem Mal beengend; sein Atem kitzelte sie am Hals; er erstickte sie, zog sie hinunter, wo sie doch unbedingt …

Wo sie doch unbedingt was?

Und dann wusste sie, was sie tun musste.

»Raffy«, begann sie leise. »Ich muss dir etwas sagen.«

»Ich muss dir auch etwas sagen.«

»Ach ja?« Evie sah ihn besorgt an.

Er grinste. »Ich muss dir sagen, wie sehr ich dich liebe. Und ich muss dir sagen, wie schön du bist.« Er zog sie wieder an sich, küsste sie und sie erwiderte den Kuss. Sie beugte sich zu ihm hin, und er zog ihr das alte T-Shirt aus, in dem sie geschlafen hatte, zog sein eigenes Hemd aus, und ihre Haut an seiner Haut fühlte sich so wunderbar an, so gefährlich und so richtig. Und als sie sich hinlegte, suchte er ihren Blick und sah ihr so eindringlich und tief in die Augen, dass sie das Gefühl hatte, er könnte es vielleicht sehen, wusste es vielleicht schon, hatte sich vielleicht damit abgefunden und ihr vergeben. Und dann wusste sie, dass es so sein musste, denn er war in ihr und sie waren eins, und die Wellen, die durch ihren Körper strömten, verzehrten sie, ließen sie aufschreien und sich an Raffy klammern wie an ein Rettungsboot, als wäre er ihre Erlösung. Und dann weinte sie, Tränen der Freude, aber auch noch etwas mehr, und als Raffy die Tränen wegküsste, kamen immer neue, bis ihre Wangen, ihr Hals und das Kissen unter ihrem Kopf nass waren.

»Weine nicht, Evie. Wein’ doch nicht«, flüsterte Raffy. »Alles wird gut. Alles wird wieder gut.«

Und Evie nickte, weil sie ihm glauben wollte. Sie musste ihm glauben.

»Und was war es, was du mir sagen wolltest?« Er grinste, rollte sich zur Seite und küsste sie noch einmal. »Meine wunderschöne Evie. Was ist?«

Sie schloss die Augen und schlug sie wieder auf. »Ich muss dir etwas erzählen, was passiert ist. In der Nacht, als wir geflohen sind.« Ihre Stimme bebte.

Raffys Miene verdüsterte sich leicht. »Ach, ich weiß doch, was in der Nacht passiert ist«, sagte er und drehte sich weg. »Ich weiß, dass ich Lucas unrecht getan habe. Und du hast getan, was du tun musstest. Ich …« Er schluckte und drehte sich wieder zu ihr. »Schau, das spielt doch keine Rolle, oder? Wir sind frei. Wir sind hier. Und wir haben uns.«