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»Sie haben uns belogen. Sie haben uns alle belogen«, sagte Evie und sah ihre Mutter flehend an, damit die verstand. »Aber ich habe dich gefunden. Ich bin jetzt hier. Hier bist du sicher.«

»Sicher«, sagte ihre Mutter, kaum verständlich.

»Sicher«, wiederholte Evie aufgeregt; ihre erste wirkliche Verständigung, das erste Anzeichen dafür, dass sie verstanden wurde. »Ich gehe nicht zurück in die Stadt. Ich bleibe hier bei dir, ich werde für dich sorgen. Ich werde …«

Die Bewegung war so schnell, dass sie nicht reagieren konnte, so unerwartet, dass sie nicht darauf gefasst war. Evie wusste nicht genau, wie es passiert war, aber plötzlich war sie wie in einen Schraubstock geklemmt; der Arm ihrer Mutter presste sich gegen Evies Hals und ihr Ellenbogen grub sich in Evies Schlüsselbein. Evie zwang sich, ruhig zu bleiben; ihre Mutter hatte Angst. Sie brauchte das Gefühl von Sicherheit. Andere Versehrte bewegten sich auf die Tür zu; Evie dachte zu spät daran, dass sie diese nicht wieder abgeschlossen hatte. Nun machten sie sich daran zu schaffen und kreischten dabei vor Freude. Bald drängten alle nach vorn und fielen übereinander.

»Hier bist du sicher«, sagte Evie noch einmal und versuchte, in dem Gedränge nicht zu Boden gestoßen zu werden. »Du musst mir nicht wehtun. Ich bin auf deiner Seite. Ich will dir helfen. Ich will …«

»Stadt!«, schrie ihre Mutter. »Stadt!«

»Nein«, sagte Evie und versuchte, den Griff zu lösen, mit dem ihre Mutter ihr die Kehle zudrückte, sodass Evie nach Atem rang. Sie musste an der Tür sein, bevor die anderen es hinausschafften. Sie musste ihre Mutter beruhigen. Vielleicht hatte die Erwähnung der Stadt entsetzliche Erinnerungen ausgelöst. »Nein, wir sind nicht in der Stadt. Du bist hier sicher. Du bist …«

»Stadt«, schrie ihre Mutter noch einmal. Dann sprang die Tür auf, und die Versehrten quollen heraus. Ihr Heulen hallte in dem überdachten Gang wider und erinnerte Evie an das Heulen, das sie als Kind in ihrem Zimmer gehört hatte. Es gelang ihr, ihre Angst zu unterdrücken, sie rief sich in Erinnerung, dass es anders war, dass sie anders waren, dass sie selbst anders war.

Der Klammergriff ihrer Mutter war so fest, dass sie es nicht mehr ertragen konnte; sie bekam nicht mehr genug Luft und die anderen Versehrten strömten aus dem Zelt. Evie keuchte; sie hörte Stimmen, dann wieder wütendes Geheul. Dann öffnete sich die Tür, und Angel kam herein, gefolgt von Linus und Martha; ein paar Männer brachten die Versehrten wieder zurück. Sie hatten ihnen die Hände auf den Rücken gedreht, und die Versehrten wanden sich und traten um sich.

Evies Mutter sah auf und verstärkte ihren Griff an Evies Hals, sodass die einen stummen, gequälten Aufschrei von sich geben wollte. »Stadt oder sterben. Stadt oder sie sterben.«

»Annabel, lass das Mädchen los«, sagte Linus, aber Evie konnte ihn kaum mehr hören. Ihr wurde schwarz vor Augen, sie sah Sterne aufblitzen. Linus und Angel kamen näher; ihre Mutter packte noch fester zu.

»Nehmen mich zu Stadt oder sie sterben«, sagte sie.

»Du gehst nicht zur Stadt, Annabel«, sagte Linus, aber in diesem Moment hatte Evie das Gefühl, als würde ihr Hals zerquetscht, und sie war sich sicher, dass sie tot war, die Schwärze war endgültig, alles war vorbei. Dann ließ der Druck mit einem Mal nach. Sie würgte und jemand legte den Arm um sie. Sie musste sich übergeben und schnappte panisch nach Luft. Sie war am Leben. Die Schmerzen an ihrem Hals waren so heftig, dass sie schrie, aber sie schob die Arme weg, denn sie wusste, dass es nicht die Arme ihrer Mutter waren, wusste, dass sie sie finden musste, ihr erklären musste …

Sie fuhr herum und suchte mit den Augen die wirre Ansammlung von Männern und von Versehrten ab, als Raffy hereingestürzt kam.

»Evie!«, rief er. »Evie, ist alles in Ordnung mit dir? Was ist passiert? Was …«

Sie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter«, wollte sie sagen, aber die Stimme versagte ihr. »Meine Mutter …«

»Deine Mutter? Du glaubst, das ist deine Mutter?«, schrie Linus; hinter ihm stand Angel und hielt ihre Mutter fest. Das Licht in ihren Augen war erloschen. Sie hing schlaff in seinen Armen.

»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, schrie Evie wütend.

»Wir haben sie betäubt«, erklärte Linus, schaute ihr in die Augen und hielt ihren Blick fest. »Du hast gedacht, sie ist deine Mutter?«

»Ich weiß, dass sie es ist«, antwortete Evie voller Bitterkeit. »Ich werde mich um sie kümmern. Ich werde für sie sorgen, und ich werde verhindern, dass ihr sie immer gleich ruhigstellt, wenn sie wütend wird. Wir werden jetzt aufeinander aufpassen.«

»Du meinst, sie könnte auf dich aufpassen?« Linus seufzte. »Okay, Angel, bring sie in ihr Bett. Evie, komm bitte mit mir.«

Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern nahm sie am Arm, führte sie aus dem Zelt, setzte sie auf einen Stuhl und gab ihr etwas Wasser zu trinken. »Du willst diese Frau retten? Du willst dich um sie kümmern?«

»Das ist nicht einfach diese Frau. Das ist meine Mutter«, sagte Evie und ließ sich nach vorn sinken. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Tränen der Enttäuschung, der Wut und der Einsamkeit. »Ich weiß, dass sie es ist. Warum gibst du es nicht zu? Was kümmert dich das überhaupt? Es kümmert doch sonst keinen.«

»Es kümmert mich, weil es nicht stimmt«, entgegnete Linus, lehnte sich zurück und legte den Arm um sie; sie machte sich steif und er zog den Arm zurück.

»Woher willst du das wissen?« Wütend blitzte sie ihn an. »Sag mir, woher willst du das wissen?«

»Weil sie erst vor einem Jahr zu uns kam«, antwortete er gequält, und sein Blick war voller Verzweiflung. »Weil …«

Er redete nicht weiter, schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich dann wieder zu ihr hin. »Evie, sie ist nicht deine Mutter. Ich weiß es. Und selbst wenn sie es wäre … selbst wenn wir sie finden würden … versteh doch. Die Versehrten sind keine Menschen wie wir. Man hat gedacht, man würde mit der Amygdala das Böse aus ihrem Gehirn entfernen, aber in Wahrheit hat man alles entfernt. Jedes moralische Empfinden. Jeglichen Sinn für Gut und Böse, für Ursache und Wirkung. Die Versehrten sind … versehrt, Evie. Irreparabel geschädigt. Annabel ist sogar noch eine von denen, die ein Stück weiter sind oder die weniger entmenscht sind, wie immer du es sehen willst. Sie hat Sehnsüchte, und das ist mehr, als man von den anderen sagen kann.«

»Sehnsüchte? Und das macht sie zum Menschen«, flüsterte Evie. »Damit ist sie wie wir.«

»Nein«, widersprach Linus. »Das macht sie einfach nur gefährlich. Sie hat nur einen einzigen Wunsch. Sie will wieder zurück in die Stadt. Sie glaubt, wir hätten sie entführt und würden sie fernhalten von dem Ort, wo sie immer hinwollte. Sie weiß nicht, was dort mit ihr passiert ist. Sie weiß nicht, dass man sie dort hinausgeworfen hat.«

»Ich kann es ihr erklären«, sagte Evie unsicher. »Damit sie begreift …«

»Sie wollte dich töten«, erklärte Linus ernst und sah sie auf einmal eindringlich an. »Sie hätte dich getötet. So sehr wünscht sie sich, in die Stadt zurückzukehren. Verstehst du? Sie hat dich hereingelockt als Köder.«

»Nein.« Evie schüttelte weinend den Kopf. »Nein.«

»Doch.« Linus legte seine Hand auf die ihre. »Und deshalb müssen wir zurück zur Stadt. Deshalb müssen wir die Dinge dort verändern. Wir müssen zurückschlagen. Für deine Eltern. Für die anderen Versehrten. Für alle Ds und Ks und wegen all dem Leid, das der Bruder mit seinem System angerichtet hat.

»Und meine Eltern?«, fragte sie trotzig.

Linus seufzte. »Wenn deine Eltern überhaupt noch am Leben sind, dann sind sie nicht mehr in der Lage, deine Eltern zu sein.«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht wahr. Du willst nur, dass ich das glaube, damit ich deinen Plan unterstütze. Damit ich dir den Schlüssel zur Stadt gebe. Aber das werde ich nicht. Nur wenn du meine Mutter freilässt.«