Linus sah sie traurig an. »Evie, den Schlüssel haben wir längst. Glaubst du, dass er immer noch in Raffys Rucksack ist?«
Evie starrte ihn wütend an. »Ihr habt ihn schon?«
»Wir arbeiten schon sehr lange an diesem Plan«, sagte Linus. »Dein Schlüssel und die Verbindung mit Lucas waren für uns das Zeichen zum Losschlagen, aber das war es nicht allein. Wir waren bereit. Wir haben gewartet. Bist du dabei? Kommst du mit uns? Willst du kämpfen? Etwas verändern?«
Evie sah ihn an, sein nussbraunes und von Falten durchzogenes Gesicht, die funkelnden blauen Augen, die Güte und Stärke und den Schmerz, die in seine Züge eingegraben waren. Dann blickte sie zurück zum Zelt der Versehrten. Angel stand davor und Raffy stand neben ihm und sah angstvoll zu ihr herüber und lächelte ihr zu.
Sie nickte, eine ganz kleine Bewegung, die man leicht hätte übersehen können. Doch Linus übersah sie nicht.
»Braves Mädchen«, murmelte er, und diesmal klangen seine Worte ermutigender. Er legte den Arm wieder um sie und drückte sie. »Und, Evie, du bist nicht allein. Es gibt keinen Grund, das zu denken. Wir sind bei dir. Dein Freund Raffy ist bei dir, auch wenn es gerade nicht so aussieht. Und …« Er stand auf. »Und ich könnte mir vorstellen, dass sich auch Lucas freut, dich wiederzusehen.« Er zwinkerte kurz, und Evie hatte das seltsame Gefühl, dass Linus irgendetwas wusste. Aber das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Und bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, war er fort. Und sie sah, dass Raffy nur ein Stück von ihr entfernt unschlüssig herumstand. Seine Miene war unergründlich, die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Geht schon«, brachte sie heraus.
Er nickte, kam langsam zu ihr und setzte sich neben sie. Er berührte sie nicht, er redete nicht mit ihr, aber er saß neben ihr. Und dafür war Evie so dankbar, dass sie es gar nicht sagen konnte.
20
Augen und Nase verklebt von Dreck und Staub. Sie ringt nach Atem. Eine Hand schließt sich um die ihre, zieht sie weiter, beruhigt sie. Aus Versehen bleibt sie an einem Stein hängen und fällt hin. Sie knallt mit dem Gesicht auf den Boden. Sie hebt den Kopf und fährt sich über die Stirn. An ihrem Handrücken ist Blut. Ihre Lippen beben, aber noch bevor die Tränen kommen, wird sie hochgehoben. Ihre Arme legen sich um einen vertrauten Nacken und es geht weiter.
Sein rhythmisch schwingender Gang beruhigt sie. Sie fühlt sich geborgen. Sein Körper ist warm. Sie schmiegt sich an ihn. Sie kann ihn riechen – Schweiß, Hunger, Entschlossenheit. Liebe. »Wir sind bald da«, murmelt er ihr ins Ohr. »Wir sind bald da, mein Liebling.«
»Warte nur«, hört sie ihn noch sagen, bevor sie einnickt. »Wir gehen in das Land der Fülle. Und des Friedens. Wir werden sehr glücklich sein, Evangeline. Du wirst schon sehen …«
Eine Erscheinung. Licht. Männer kommen auf sie zu. Sie sind in Sicherheit. Sie haben es geschafft. Ihre Eltern lächeln. Ihre Augen leuchten auf. Sie drücken ihre Hand. »Wir sind da, Evie. Wir sind endlich da. Wir haben dir doch gesagt, dass wir es finden würden …«
Dann kommt einer der Männer auf sie zu und versucht, sie mitzunehmen. Ihr Vater versucht, sie festzuhalten. »Was tut ihr da? Sie ist unsere Tochter. Sie gehört zu uns. Wir gehören zusammen. Wir sind …«
Der Mann achtet nicht darauf, er sieht ihre Eltern gar nicht, hört nicht die Schreie ihrer Mutter. Er nimmt Evie und marschiert mit ihr davon. Sie kann immer noch die panischen Fragen ihrer Eltern hören, wo man sie hinbringt, wann sie sie wiedersehen werden. Sie rufen ihren Namen; rufen, dass sie bald wieder zusammen sind.
Der Mann lächelt sie an. »Vergiss sie«, sagt er. »Es lohnt sich nicht, sich noch Gedanken über sie zu machen. Komm mit …«
Sie ist in einem Zimmer. Es ist kalt und es ist dunkel. Sie spürt fremde Arme um sich. Ihre Kehle ist ganz heiser vom Schreien und jetzt schweigt sie. Sie spürt, wie ihr Kopf nach vorn sinkt, spürt, wie ihr die Augen zufallen. Sie will schlafen. Doch sie zwingt sich, die Augen wieder zu öffnen. Sie darf jetzt nicht schlafen, sie weiß es. Der Mann hat es ihr gesagt; der Mann, der lächelt, aber mit einem gefährlichen Ausdruck in den Augen. Er hat ihr gesagt, dass ihre Eltern nicht existieren; dass die Leute, mit denen sie so lange unterwegs war, die Leute, deren Hoffnung und deren Schilderungen von ihrer Rettung ihr Stärke gegeben haben, wenn sie sich schwach fühlte, die ihr die Kraft gegeben haben, weiterzugehen, wenn sie sich nur noch hinlegen und sich zusammenrollen wollte, nicht mehr hier sind. Er sagt, sie sind gegangen. Sie haben sie verlassen, so wie sie es von Anfang an vorgehabt hätten.
Die Menschen starren sie an. Sie sieht auf ihre Füße; das hat sie sich angewöhnt. Nur Blickkontakt aufnehmen, wenn man weiß, was vor sich geht, wenn man sich sicher fühlt. Sie hat schon viel Gewalt mitansehen müssen in ihrem Leben; vor ihren Augen sind Menschen getötet worden, sie hat Wilde gesehen, die das Fleisch von Toten gegessen haben. Ihre Eltern haben ihr gesagt, dass die Welt ein sehr schöner Ort sein kann, aber sie ist sehr verständig für ihr Alter. Sie weiß, dass das nicht stimmt.
»Delphine, Ralph. Wollt ihr sie richtig kennenlernen?« Ein Paar kommt auf sie zu.
»Evangeline?« Der Mann spricht als Erster. Er geht vor ihr in die Hocke. »Evangeline, ich bin so froh, dass du hier bist. Ich bin dein Vater. Und das hier ist deine Mutter. Wir haben auf dich gewartet.«
Evie ist erschrocken. Sie war auf vieles gefasst, aber nicht auf das. Sie bricht ihre Regel und sieht auf. Sieht ihnen in die Augen.
»Mein Vater«, sagt sie. »Mein Vater ist …« Sie weiß nicht, wie sie den Satz beenden soll, sie weiß nicht, wo ihr Vater ist.
»Ich bin dein Vater, Evangeline«, sagt der Mann sanft, aber bestimmt. »Der Mann, mit dem du gekommen bist, um den kümmert man sich. Er braucht unsere Hilfe, und du willst doch, dass wir ihm helfen, oder? Du willst, dass wir allen Menschen helfen, die mit dir gekommen sind.«
Sie nickt. Der Mann bietet ihr etwas zu essen und Wasser zu trinken an; hungrig greift sie zu.
»Ist sie krank? Fehlt ihr etwas?« Dieses Mal spricht die Frau; ihre Augen betrachten sie forschend und machen Evie verlegen.
»Sie ist nicht krank, Delphine. Sie ist drei Jahre alt. Ist sie nicht die Tochter, die ihr euch immer gewünscht habt?« Der erste Mann starrt Evie an. »Du bist doch die Tochter, die diese Dame sich immer gewünscht hat, nicht? Du wirst ihr und der Stadt doch bestimmt eine gute, brave Tochter sein? Willst du das?«
Evie nickt.
»Ich werde eine gute Tochter sein«, sagt sie mit leiser, belegter Stimme.
»Das wirst du, wenn du erst die Neutaufe erhalten hast«, erwidert die Frau.
»Gleich morgen wird sie sie erhalten«, beruhigt sie der erste Mann. »Zusammen mit den anderen.«
»Sie ist perfekt«, sagt der Mann, der sich ihr Vater nennt. »Komm, Delphine. Die anderen warten schon. Nehmen wir sie mit. Nehmen wir sie mit nach Hause.«
Die Frau sieht noch einmal an ihr hinunter. »In Ordnung.« Sie nickt. »Wird schon werden.«
Sie streckt Evie die Hand hin und die ergreift sie.
»Du heißt Evangeline?«, fragt ihr neuer Vater sie. Evie nickt. »Ich glaube, wir nennen sie Evie.«
»Meine Eltern nennen mich auch Evie«, flüstert sie.
Sofort bleibt die Frau stehen, packt sie an den Schultern und zischt: »Wir sind deine Eltern. Du hast keine anderen Eltern, verstanden? Nur böse Kinder reden von anderen Eltern. Nur niederträchtige, schreckliche Kinder, die man bestraft für ihre Niedertracht. Wir sind deine Eltern. Vergiss die Leute, mit denen du gekommen bist, genau wie sie dich vergessen haben. Hast du verstanden? Hast du verstanden?«
Evie nickt. Sie hat verstanden. Als sie aufwacht, versteht sie mit einem Mal alles.
Sie marschierten schweigend, Linus mit Martha voraus, dann Raffy und Evie und drei andere Männer. Die Versehrten wurden von Angel und fünf Leuten mit einem Transporter hingebracht und sollten knapp außer Sichtweite der Stadt mit Linus und den anderen zusammentreffen.