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»Die Neutaufe?« Lucas starrte ihn erschrocken an. »Aber wenn ich ein K bin, dann solltest du …«

»Dich aussetzen und von den Bösen zerfleischen lassen? Oh, Lucas, da bist du wieder mal irgendwelchem Klatsch aufgesessen.« Der Bruder lächelte und trieb sein Spiel mit ihm. »Jeder weiß doch, dass Ks neukonditioniert werden. Wir sind schließlich eine barmherzige Gemeinschaft. Wir schützen unsere Schäfchen. Außerdem bist du viel zu sehr durchsetzt vom Bösen. Einen solchen Grad an Bösem kann ich nicht dulden, nicht einmal außerhalb unserer Mauern.«

Lucas zerrte an den Ketten. »Das kannst du nicht tun«, rief er. »Sam! Tu etwas! Du kennst mich doch. Du weißt, dass ich nicht böse bin. Hilf mir. Hol mich hier raus.«

Sam sah ihm nicht in die Augen. Stattdessen ging er zur Tür. Er glaubte dem Bruder, das wurde Lucas mit einem Schlag klar. Er glaubte, dass Lucas böse war, dass Ks neukonditioniert wurden, dass alle die Neutaufe erhielten – er glaubte alles, was man ihm gesagt hatte. Genau wie Lucas, bevor sein Vater ihm die Wahrheit erzählt hatte. »Soll ich die Polizeigarde informieren?«, fragte Sam den Bruder.

»Ja, es bleibt bei Sonnenuntergang«, sagte der Bruder. »So habt ihr es doch in eurer letzten Botschaft vereinbart, nicht wahr?« Er lächelte Lucas an.

Lucas schloss die Augen.

»Also bei Sonnenuntergang«, sagte Sam und verließ den Raum.

»Nun, ich würde zwar gern noch bleiben und etwas plaudern, aber ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen«, erklärte der Bruder. »Wachen, behaltet ihn hier. Lasst ihn nicht aus den Augen, verstanden? Dieser Mann ist sehr gefährlich und sehr böse. Hört nicht auf das, was er sagt, denn er wird alles daransetzen, um auch euch zu verderben.«

Die Wachen nickten.

»Leb wohl, Lucas«, sagte der Bruder und rauschte zur Tür. »Leb wohl.«

»Okay. Wir warten hier.« Es wurde gerade dunkel. Die kühle Luft strich leicht über Evies Nacken, doch als sie haltmachten, stellten sich die feinen Härchen dort auf. Keiner redete; es gab nichts zu sagen. Jeder bündelte seine Aufmerksamkeit, konzentrierte sich. Linus ging unruhig auf und ab und machte die anderen damit nervös – als ob die Anspannung nicht schon groß genug gewesen wäre. Dann hörten sie es. Das Knirschen von Rädern im Staub. Ein Geräusch, das man selten hörte und das Evie und Raffy auch nicht recht einordnen konnten. Das Geräusch wurde immer lauter, je näher die Räder heranrollten, ein tiefes Summen, das irgendwie höher wurde, als es näher kam. Dann tauchte der Lastwagen vor ihnen auf, erhob sich riesig am Horizont. Doch als er dichter bei ihnen war, ertönte ein anderes Geräusch; ein Geräusch, bei dem alle aufhorchten, sich gegenseitig ansahen und dann schnell wegschauten. Ein Jammern, ein Weinen, wütendes Grunzen, Geräusche, die sofort zu erkennen waren und die bei Evie Entsetzen und Abscheu hervorriefen, dann Scham über ihre Reaktion auf ihre eigenen Leute, deren Leben durch die Grausamkeit der Stadt unwiederbringlich zerstört worden war.

Der Lastwagen hielt wenige Meter vor ihnen an; er war riesig, größer als alles, was Evie je auf Rädern, was sie je in Bewegung gesehen hatte. So groß wie ein Haus, dachte sie, oder zumindest so groß wie ein Zelt in Base Camp. Dann öffneten sich die Türen, Angel stieg aus und das Heulen, das Grunzen und das Stöhnen schwollen zu fast unerträglicher Lautstärke an. Die Gesichter der Versehrten waren durch die Scheiben deutlich zu erkennen. Evies Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte nichts dagegen tun. Linus kam zu ihr. »Sie sind nicht mehr die, die sie vorher waren«, sagte er mit sanfter Stimme, so leise, dass niemand sonst es hören konnte. »Das darfst du nicht vergessen. Und wenn sie noch die wären die sie früher waren, dann würden sie mit uns kämpfen bis zum Ende.«

Evie nickte und spürte, wie Raffys Hand sich um die ihre schloss. Sie erwiderte den Druck, so fest sie konnte, und hoffte, ihm mit dieser einen Geste alles, alles sagen zu können, aber dann ließ er wieder los, und alles war wieder kalt. Sie wollte die Versehrten nicht ansehen, aber sie konnte nicht anders. Sie musste sie sehen, jeden von ihnen, mit den starren Augen, den zuckenden Körpern, dem markerschütternden Schreien und Stöhnen. Die Bösen. Die Gefürchteten. Doch sie schienen sich selbst mehr zu fürchten, als Evie es je bei irgendjemandem erlebt hatte. Mehr als Raffys Vater an dem Tag, als er abgeholt wurde. Sie beobachtete sie, doch sie wandte sich ab, als Linus das Signal zum Losmarschieren gab. Aber auch während sie ging, sah sie noch immer das Bild vor ihrem geistigen Auge. Sah noch immer die Menschen, die sie zur Stadt getragen hatten in dem Glauben, dass sie dort eine zweite Chance bekamen. Die Menschen, die an den Großen Anführer geglaubt hatten, die sich dargeboten hatten wie Opferlämmer. Sie waren die wahren Killables. Sie waren Ausschuss gewesen. Einmal benutzt, dann immer wieder, um dem Bruder und dem Großen Anführer für deren abscheuliche Zwecke zu dienen.

Und nun wurden sie ein weiteres Mal benutzt. Für Evies Zwecke. Und für die von Linus.

»Alles in Ordnung?«, fragte Raffy besorgt. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, erwiderte sie, und abermals stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Ich kann die Versehrten nicht in den Tod gehen lassen.«

»In den Tod?«, fragte Linus leicht bestürzt.

»Sie sind Lockvögel. Die Polizeigarde wird sie töten, das weißt du genau.«

»Davon weiß ich nichts«, entgegnete Linus, und sein Gesicht war plötzlich sehr ernst. »Glaubst du, ich würde zulassen, dass die Polizeigarde Hand an sie legt? Nein, Evie. Sie haben genug gelitten. Sie werden nur ein bisschen Verwirrung stiften und sich schadlos halten für das, was sie durchgemacht haben. So wie wir alle.«

»Wirklich?«

»Vertrau mir, Evie«, sagte Linus und zwinkerte ihr zu. Er wartete, bis sie nickte. Dann drehte er sich um und rief: »Okay, wir gehen weiter.«

21

»Also, Angel, du gehst mit den Versehrten Richtung Osttor. Die anderen kommen mit mir. Und nicht vergessen: Wir bleiben höchstens eine Stunde in der Stadt. Wir ändern die Ränge, wir schalten das System ab und programmieren es neu, und dann verschwinden wir wieder. Verstanden?«

Alle nickten. Schweigend schauten sie zu, wie Angel und seine Leute wieder in den Lastwagen stiegen und davonfuhren. Das Klagen und Stöhnen der Versehrten hallten noch eine Weile durch die nächtliche Stille, bis es kaum mehr zu hören war.

»Und Lucas wartet am Tor?«, fragte Raffy. Auch sie hatten sich unterdessen in Marsch gesetzt. In seiner Stimme klang eine Schärfe mit, die Evie als Einzige zu bemerken glaubte, und der Mut verließ sie. Er war wieder wütend, und wenn er erst Lucas sah, dann konnte es eigentlich nur noch schlimmer werden.

»So ist es geplant«, antwortete Linus und schwang im Gehen die Arme, als wären sie auf einem Spaziergang und nicht auf dem Weg in die Schlacht.

»Und wenn sie die Schlösser am Osttor ausgewechselt haben? Immerhin wissen sie, dass Evie und ich den Schlüssel haben.«

»Das haben sie nicht getan. Warum auch? Die Tore sind doch von innen verriegelt.«

»Aber wie sollen die Versehrten dann hineinkommen?«