Evie fand es immer wieder seltsam, dass jemand etwas ablehnen konnte, durch das alles besser wurde. Aber das war eben das Problem mit dem Bösen – jeder schöpfte Verdacht und widersetzte sich allem, das die Welt vom Bösen befreien würde, weil sich das Böse bereits festgesetzt hatte und nicht ausgemerzt werden wollte.
Und das alles nur wegen der Amygdala, einem kleinen Teil des menschlichen Gehirns, den das Böse eingenommen und zu seiner Heimstatt gemacht hatte. Das hieß, dass die Menschen von Natur aus selbstsüchtig, aggressiv, stolz, schwierig waren und ständig miteinander konkurrierten, was sie immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Kriege, Scharmützel, Raubüberfälle, Vergewaltigungen und Morde. Schreckliche Dinge. Unvorstellbare Dinge. Und am schlimmsten war die Schreckenszeit selbst gewesen. Evie wusste Bescheid über die Schreckenszeit – alle wussten Bescheid. Deshalb waren sie da. Deshalb gab es die Stadt.
Die Schreckenszeit machte den Menschen klar, wie anfällig und gefährlich sie selbst waren. Die Schreckenszeit machte ihnen klar, dass der Große Anführer die ganze Zeit recht gehabt hatte.
Hier in der Stadt war das alles so sonnenklar. Und es war eigenartig, dass, bevor es die Stadt gab, nur der Große Anführer erkannt haben sollte, wie die Gebrechen der Welt zu heilen waren, und noch eigenartiger war es, dass die Menschheit nicht in Jubel ausbrach und ihn sofort bei der Umsetzung unterstützte, als er seine Erkenntnisse mitteilte. Aber das war eben das Problem mit den Menschen, sagte der Bruder immer. Sie hatten Schwächen, Fehler. Sie erkannten die Wahrheit nicht. Sie rannten erst einmal davon vor allem Neuen und Revolutionären, bis sie erkannten, dass es keine Alternative gab. So waren sie auch vor dem Großen Anführer davongerannt, hatten ihm nicht zuhören wollen und ihm glatt verwehrt, seine Theorie zu erproben und nachzuweisen, wie wirksam sie war.
Aber das war noch vor der Schreckenszeit gewesen, als die Menschheit dem puren Bösen ins Gesicht gestarrt hatte und die Folgen hatte tragen müssen. Das war, bevor die Alternativen ausgegangen waren und die Menschen erkannten, dass es eine Revolution brauchte.
Ein paar erleuchtete Seelen begannen damals, dem Großen Anführer zuzuhören, und eine kleine Schar erkannte, dass er recht hatte. Also baute er die Stadt, um sie zu schützen, und seither war niemand mehr traurig, böse, gefährlich oder grausam. Er schaffte es, dass das Böse einfach nicht mehr existierte. Jedenfalls nicht innerhalb der Stadtmauern.
Vor der Schreckenszeit war der Große Anführer Professor an der Universität gewesen, hatte Menschen unterrichtet und Forschung betrieben. Und als Chirurg war ihm bei einer Operation eine Idee gekommen, die – wie alle guten Ideen – zunächst einmal auf völlige Ablehnung gestoßen war. Man sagte ihm, es funktioniere nicht, es sei nicht möglich und dass er verrückt sei. Also gab er die Arbeit als Hirnchirurg auf und widmete sich ganz der Forschung, um die Wirksamkeit und Machbarkeit seines Verfahrens nachzuweisen. Außerdem gab er sein Wissen an seine Studenten weiter, die ihm bei der Ausarbeitung und der Verbreitung halfen.
Doch noch immer wollte keiner ihn ernst nehmen. Jedes Mal wenn er etwas veröffentlichen wollte, sagte man ihm, er sei verblendet und die Theorie sei gefährlich. Sie entzogen ihm sogar die ärztliche Zulassung. Das zeige doch nur, meinte der Bruder immer und schüttelte dabei ungläubig den Kopf, wie irregeleitet die Menschen damals waren. Denn sie selbst waren es, die gefährlich waren. Sie waren es, die die ganze Welt in den Untergang trieben.
In der Stadt jedoch konnte der Große Anführer endlich beweisen, dass er recht hatte. Damals, als die Stadt gegründet worden war, war jeder willkommen – jeder, der den öden Wüsten entrinnen wollte, die die Schreckenszeit hinterlassen hatte, der etwas zu essen, Wasser, ein Obdach und einen Neubeginn wollte. Er brauchte sich nur der Neutaufe zu unterziehen, bei der die Amygdala entfernt wurde. Jeder, der in der Stadt lebte, erhielt die Neutaufe. Bei Babys geschah das gleich nach der Geburt. Neuankömmlinge erhielten die Neutaufe nach ihrer Ankunft. Das war Teil der Vereinbarung; ohne Neutaufe konnte man nicht in der Stadt leben. Jeder hatte dieselbe kleine, beruhigende Narbe an der rechten Stirnseite, die allen zeigte, dass sie in Sicherheit waren. Denn war die Amygdala erst einmal weg, dann waren die Menschen rein und frei von allem Bösen. Und solange sie dem Bösen entschlossen den Zugang zu ihren Köpfen verwehrten, blieben sie gute Menschen.
Seither hielten die Stadtmauern das Böse draußen und das Gute drinnen. Aber das Gute musste gepflegt werden, und deshalb überwachte das System jeden in der Stadt sehr gründlich – insbesondere die Ds, denn manchmal genügte die Neutaufe nicht. Manchmal bildete sich die Amygdala neu. Wenn das passierte, dann war eine weitere Neutaufe nötig. Dann wurde man allerdings von seinen Freunden und von der Familie getrennt, da man nicht vertrauenswürdig war und für sie und für sich selbst zu einer Gefahr werden konnte.
Wenn die Amygdala nachwuchs, bekam man ein anderes Abzeichen als die anderen: ein K. Das Rangabzeichen war blutrot und es stand für Gefahr. Dieser Rang wurde allerdings nie erwähnt; Ks sah man nie auf der Straße, denn mit der Herabstufung wurden sie sofort zur Neukonditionierung ins Krankenhaus gebracht. Sie kamen auch nicht zurück. Sie waren zu gefährlich, um in einer normalen Gesellschaft zu leben, denn wenn das Böse ein Mal zurückkam, dann würde es immer wieder kommen. Deshalb mussten sie genauer überwacht werden, sie mussten vor sich selbst geschützt und von den guten Stadtbewohnern ferngehalten werden. Keiner wusste, wo die Ks hinkamen; niemand durfte das wissen. Ks waren gefährlich, und auch alle um sie herum wurden mit Argwohn behandelt, denn das Böse könnte sich ausgebreitet haben.
Deshalb mochte niemand Raffy.
Sein Vater war ein K gewesen und von der Familie weggeholt worden, als Evie vier Jahre alt war. Sie erinnerte sich daran, wie man ihn aus dem Haus gebracht hatte – es war an ihrem Schulweg gelegen. Raffy war bei ihr gewesen, als es geschah. Damals, als kleine Kinder, die zusammen zur Schule gingen, hatten sie noch Freunde sein dürfen. Auch sein älterer Bruder war dabei gewesen, und sie hatten die neuen Wörter aufgesagt, die sie im Unterricht gelernt hatten. Lucas hatte zuerst gesehen, dass ein Polizeigardist auf ihre Haustür zuging. Der Vater wollte weglaufen, wurde aber festgehalten und die Hände wurden ihm auf dem Rücken gefesselt. Raffy wollte ihm nachrennen, aber Lucas hatte ihn zurückgehalten. So hatte Evie einfach mitangesehen, wie der Vater der Jungen abgeführt worden war und die Mutter der beiden mit Büchern, Kleidungsstücken und anderen Dingen aus dem Haus rannte, alles im Vorgarten auf einen Haufen warf und ihn anzündete. »Als Reinigung«, hatte Evies Mutter später erklärt und dabei müde den Kopf geschüttelt. »Die arme Frau. Da siehst du mal – man kann nie sicher sein.«
Lucas fand sich mit der Tatsache ab, dass sein Vater zur Neukonditionierung eingewiesen worden war. Es wirkte bei ihm als Katalysator für seine Selbstverbesserung. Schon zuvor war er eher nüchtern und vernünftig gewesen, aber von diesem Tag an war er ein mustergültiger Bürger. Er arbeitete hart, machte sich bei den Lehrern beliebt, indem er die schwächeren Mitglieder herausstrich und zeigte, dass er aus ganz anderem Holz geschnitzt war als sein Vater. »Ganz die Mutter«, sagten die Leute bald. »Was für eine Schande, das mit seinem Bruder.«
Raffy konnte sich nicht abfinden mit dem Verlust des Vaters. Er wurde aufmüpfig und handelte sich damit immer wieder Strafen ein. Schließlich verfiel er in Schweigen, starrte die Lehrer, ja sogar den Bruder, nur wütend an, wenn sie mit ihm reden wollten. Evie versuchte, ihm zu helfen, versuchte, die Freundschaft zu erhalten, aber ihre Eltern sorgten dafür, dass sie am anderen Ende des Klassenzimmers saß, und ließen durchblicken, dass sie sich andere Freunde suchen musste. Gute Freunde. Bessere Freunde.