Freunde wie Lucas. Und schon bald wurde sie sowieso von den Jungen getrennt und da konnten sie nicht mehr länger befreundet sein.
Die ersten Sonnenstrahlen schoben sich durch das Fenster herein und sagten Evie, dass sie aufstehen und sich für die Arbeit fertig machen musste. Unwillig schlug sie die Decke zurück und schwang die Füße aus dem Bett, genauso wie immer. Doch heute fühlte sie sich müder als sonst, und sie nahm an, dass das nicht nur an ihrem mitternächtlichen Ausflug lag. Es war Schuld. Schuld und Angst.
Die Sache mit Raffy … Es hatte zunächst nicht so schrecklich angefangen. Aber so war das mit dem Bösen; immer wieder erklärte der Bruder ihnen, dass es sich als etwas anderes verkleidete, als etwas Unschuldiges und Makelloses. So lockte es einen an und versklavte einen. Evie hatte bei den Unterweisungen immer andächtig zugehört und dabei die ganze Zeit über gewusst, dass es bereits zu spät war, dass sie dem Bösen verfallen war.
Damals, in der Kinderzeit, war es wirklich ganz unschuldig gewesen; jeden Nachmittag hatte man sie nach der Schule zur Lichtung gebracht, wo sie herumrennen und sich austoben konnten. Damals hatten sie den Baum für sich entdeckt, waren in unbeobachteten Momenten hineingeschlüpft und hatten einander erzählt, was sie von ihren Eltern und den Lehrern über die Vergangenheit gehört hatten: über die Schreckenszeit, über Flugmaschinen und über eine riesige Welt voller Menschen. Sie erzählten einander alles, was sie sonst niemandem erzählen konnten, hörten einander zu und verstanden einander. Dann aber wurden sie acht Jahre alt, kamen in die nächste Schule und durften einander nicht mehr sehen – aber sie versprachen einander, sich bei dem Baum zu treffen. Das sollte ihr Ort sein.
Fünf volle Jahre hatte es gedauert, bis sie wieder zusammenkamen, bis sie in ihrer sorgsam überwachten Unabhängigkeit unter dem Vorwand von Lauftraining oder einem Treffen mit genehmigten Freunden wieder zur Lichtung kommen konnten. Raffy schaffte es als Erster, und als Evie schließlich auch kam, erzählte er ihr, dass er seit einem Jahr auf sie gewartet habe, Tag für Tag, und er habe schon befürchtet, sie hätte ihn vergessen, er sei ihr gleichgültig, und es sei albern gewesen, die ganze Zeit an sie zu denken.
Evie hatte ihn nicht vergessen, aber ihr war klar, dass sie sich auf etwas sehr Gefährliches einließen. So begannen sie, sich nachts zu treffen, heimlich, verstohlen, weil sie wussten, was passieren würde, wenn man sie erwischte – doch sie taten es trotzdem, denn das, was sie an diesen Ort und zueinander hinzog, war viel stärker als ihre Angst.
Woche für Woche hatte Evie Raffy gesagt, sie müssten aufhören. Woche für Woche hatte Evie Raffy angefleht, dass er sie vergessen musste. Und Woche für Woche sagte er ihr, er würde sie nie vergessen, sie sei der einzige Mensch, der ihn verstehe; und wenn das verkehrt sei, dann müsse die ganze Stadt verkehrt sein. So etwas zu sagen, war abweichlerisch, und Evie wusste, dass das, was sie taten, ein schlimmes Ende nehmen musste. Und doch hatte Raffy auch recht, denn wenn sie von ihm getrennt war, fühlte sie sich leer, und wenn sie bei ihm war, dann war ihr, als wäre sie irgendwie zu Hause, auch wenn das keinen Sinn ergab. Überhaupt keinen Sinn.
Deshalb wusste sie auch, dass der Bruder sich irrte, was ihren Traum anging, und dass er früher oder später die Wahrheit herausfinden musste. Niemand wusste, wie das System seine Bürger beobachtete, wie es sie überwachte. Man wusste nur, dass es geschah und dass es alles wusste. Und wenn es über Evie und das Böse in ihr noch nicht Bescheid wusste, dann war das nur eine Frage der Zeit. Sie hatte schon versagt, sie hatte sich als unwürdig gezeigt gegenüber der Stadt. Das Böse hatte schon von ihr Besitz ergriffen. Sie war ihm zu Willen, und sie erwies sich als unfähig, sich zu widersetzen.
Rasch zog sie sich an – die Hose und die Bluse, die alle Mädchen in der Stadt trugen. Die Kleider wurden im Tuchviertel hergestellt, wo ihre Mutter arbeitete; es gab nur drei oder vier verschiedene Modelle. So wurde die Produktivität maximiert, man beugte der persönlichen Eitelkeit vor und vermied unnötigen Wettbewerb.
Dennoch sahen die Menschen nicht gleich aus. Die Kleidung mochte gleich sein, aber das Abzeichen, das ans Revers genäht wurde, unterschied sie mehr, als irgendein Kleidungsstück es gekonnt hätte. Gelb für As, Blau für Bs, Rosa für Cs, Violett für Ds und … und das andere Abzeichen – das man allenfalls einmal kurz zu sehen bekam. In einem Blutrot, das allen Angst einflößte, die es sahen. Das Gebäude der Rangabteilung lag hinter dem Tuchviertel; zwei lange Warteschlangen zogen sich bis weit über den Bezirk hinaus, je einmal bei Tagesanbruch und noch einmal nach Arbeitsschluss am Abend: eine Schlange für Aufwertungen, die andere für Herabstufungen. Die alten Abzeichen wurden abgerissen und die neuen mit den eigentümlichen Nähstichen angeheftet, die nur die Rangwechsler beherrschten.
Evie ging selten in die Nähe der Rangabteilung. Sie hasste den Anblick der Herabgestuften, ihre hängenden Schultern und ihren furchtsamen Blick, obwohl sie möglicherweise selbst die Rangänderung im System vorgenommen hatte. Vielleicht auch gerade deswegen …
Sie sah auf ihr eigenes blaues Band hinunter und straffte den Rücken. Sie war eine B. Noch.
Sie machte sich fertig, rannte nach unten, frühstückte und räumte den Tisch ab. Dann verabschiedete sie sich von den Eltern und verließ das Haus.
Als sie sich ihrer Arbeitsstelle in Block Nummer 3 näherte, blickte sie sich unauffällig um, ob Raffy in der Nähe war. Er war nicht da und irgendwie war sie erleichtert. Doch auch ein bisschen enttäuscht, aber sie sagte sich, es war gut so, alles in allem. Ab heute würde sie ihre Gedanken nicht mehr an verbotene Orte schweifen lassen, ab heute sollten das Träumen und Zweifeln ein Ende haben.
Entschlossen ging sie die Stufen zum Eingang hinauf, verstaute ihre Sachen im Spind und ging hinauf in ihre Abteilung. Sie strahlte die Aufseherin an, nahm sich ihren Stapel Akten und setzte sich an ihren Schreibtisch.
»Morgen«, sagte sie zu Christine, die bereits bei der Arbeit war.
Christine blickte sie fragend an und sagte mit gedämpfter Stimme: »Du bist so gut gelaunt … Was ist passiert?«
»Nichts«, erwiderte Evie. »Nichts ist passiert.«
Christine dachte kurz nach und beugte sich dann näher zu Evie hin. »Gestern Abend hatte ich Alfie Cooper zu Besuch. Meine Eltern haben das eingefädelt.«
Evie drehte sich rasch herum. Sie erinnerte sich vage an Alfie; er war in der Schule ein paar Klassen über ihnen gewesen. Ein ziemlich rundlicher Junge, der oft weinte, soweit sie sich erinnern konnte. »Zu Besuch? Ist es gut gegangen?«
»Ja«, sagte Christine zögernd und verzog leicht das Gesicht. »Ich meine, ich denke schon … Er hat aber fast die ganze Zeit nur mit meinen Eltern geredet. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.«
»Glaubst du, ihr werdet miteinander verlobt?«, fragte Evie.
Christine zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.« Sie gestattete sich ein Lächeln. »Weißt du, dass er ein A ist? Genau wie Lucas?«
»Ein A!« Evie versuchte, begeistert auszusehen.
Christine war Rang B, genau wie Evie und wie fast alle Mädchen in diesem Büro. »Das ist ja toll.«
»Ja, nicht wahr?«, meinte Christine aufgeregt. »Wenn er ein A ist, dann heißt das, dass er ein wunderbarer Mensch sein muss. Genau wie Lucas. Liebenswürdig und rücksichtsvoll und voller Güte. Bestimmt wird er mich glücklich machen. Das sagt auch meine Mutter und da hat sie doch recht, oder?«
Sie sah so überzeugt aus, so glücklich. Evie nickte. Sie hatte recht. As waren gut. Lucas war gut. Sie konnte das nur deshalb nicht richtig würdigen, weil sie selbst nicht gut war. »Natürlich hat sie recht«, sagte sie. »Ich wünsche dir, dass alles gut geht.«