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»Aber da wußten wir noch nicht, daß der Krieg tatsächlich ausgebrochen ist. Das ist eine völlig andere Situation.« Ben hielt für einen Moment mit Rudern inne und blickte Juan herausfordernd an. »Willst du vielleicht, daß die Deutschen gewinnen?«

»Bitte schweig«, sagte Singh plötzlich. »Erweise ihm diese letzte Ehre. Er hat sie wahrlich verdient.«

Mike blinzelte. Juan, André und selbst Chris hatten auf einmal einen sehr sonderbaren Ausdruck auf dem Gesicht, und Mike überfiel ein unbehagliches Gefühl. »Was ... meinst du damit?« fragte er zögernd.

Singh wandte den Kopf und sah ihn aus seinen schwarzen, unergründlichen Augen an: »Wir werden Trautman nicht wiedersehen, Herr. Er wird die NAUTILUS auf ihrer letzten Fahrt begleiten.«

»Das weiß ich«, antwortete Mike, »aber wieso -«

Er stockte. Dann begriff er - und fuhr so erschrocken in die Höhe, daß das winzige Boot wild auf dem Wasser zu schaukeln begann.

»Du meinst -«

»Er meint, daß Trautman mit der NAUTILUS untergehen wird«, fiel ihm Juan ins Wort. »Und jetzt sag bloß noch, du hast das nicht gewußt!«

Aber genau so war es. Mike gestand sich ein, daß er bis jetzt noch nicht einmal darüber nachgedacht hatte, was Trautman tun würde, nachdem er die NAUTILUS versenkt hatte.

Die Antwort war einfach: Er würde nichts tun, weil er mit dem Schiff sterben würde. Er würde es irgendwo versenken, wo das Meer tief genug war, daß der Wasserdruck es zermalmen würde, und Trautman würde an Bord bleiben. Er liebte die NAUTILUS über alles und hatte die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens das Schiff bewacht. Wenn es nicht mehr da war, hatte auch sein Leben seinen Sinn verloren. Er würde zusammen mit der NAUTILUS untergehen: das Schiff, das er fast ein Menschenleben lang beschützt und bewacht hatte, würde nun zu seinem Grab werden.

»Das ... das darf er nicht«, stammelte er. »Das lasse ich nicht zu! Kehrt um! Rudert sofort zurück.«

Ben schürzte nur verächtlich die Lippen und pullte weiter, während Juan ihn voll Mitgefühl ansah. Singh legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.

»Es hätte keinen Sinn«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er bereits fort. Und selbst wenn nicht - Ihr wißt, daß er so handeln muß. Ihr könntet ihn nicht aufhalten. Ihr würdet es nur für uns alle schwerer machen.«

Mike schlug seine Hand beiseite und funkelte ihn an. Gleich darauf tat ihm seine eigene Unbeherrschtheit schon wieder leid - aber Singh schien sie ihm nicht übelzunehmen. Er spürte wohl, daß es nur seine Art war, mit dem Entsetzen fertig zu werden.

Und nach einer Weile ließ sich Mike auch wieder zurücksinken und schloß die Augen. Diesmal versuchte er nicht, die Tränen zurückzuhalten, die unter seinen Lidern hervorquollen.

Sie hatten sich erkundigt, wann die nächste Fähre ablegen würde, und dabei erfahren, daß sich Großbritannien tatsächlich im Kriegszustand mit Deutschland befand. So schrecklich die Nachricht auch war, brachte sie ihnen doch einen Vorteil. Vor der Kriegserklärung hatte nur alle paar Tage eine Fähre zwischen Alderney und dem britischen Festland verkehrt. Jetzt aber fuhr täglich mehrmals eine Fähre: die nächste bereits eine Stunde nach Sonnenaufgang.

Um nicht aufzufallen, gingen sie nicht in einer Gruppe, sondern getrennt an Bord - Singh, der sich des neunjährigen Chris' angenommen hatte, als erster, danach kam Ben (niemand hatte sich seinem Vorschlag, allein zu gehen, besonders nachdrücklich widersetzt), und am Schluß und mit einigen Minuten Abstand folgten Juan, André und Mike selbst.

Es war ein sonderbares Gefühl, nach so langer Zeit wieder unter Menschen zu sein. Immerhin waren mehr als sieben Monate vergangen, seit sie England verlassen hatten, und seither waren sie eigentlich fast immer allein gewesen. Wenn überhaupt, so hatte sich Mike auf diesen Aspekt ihrer Rückkehr am meisten gefreut: endlich wieder unter Menschen zu sein und einmal andere Gesichter zu sehen als die Singhs, Trautmans oder der vier anderen. Aber nun fühlte Mike sich unter all diesen Menschen nicht wohl. Ganz im Gegenteiclass="underline" Sie machten ihm angst. Auf dem Deck der schwankenden Fähre herrschte enormes Gedränge. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und der Lärm war unbeschreiblich.

Erst nach einer Weile wurde ihm klar, weshalb.

Es waren nicht die Menschen, die ihm ein solches Unbehagen einflößten. Es war ihre Angst, die er spürte. Wohin er auch sah, blickte er in bedrückte Gesichter, sah er in Augen, die sorgenvoll dreinblickten, und es schien nur ein Gesprächsthema zu geben: den Krieg.

Je mehr Mike darüber nachdachte, desto absurder erschien ihm die Vorstellung, daß sich plötzlich ganze Nationen gegenüberstehen sollten, bis an die Zähne bewaffnet und wild entschlossen, den anderen niederzumachen, ganz gleich, was es kostete. Es gelang ihm einfach nicht, den Gedanken als Wirklichkeit zu akzeptieren. Krieg, das war etwas, worüber man in Geschichtsbüchern las oder in Romanen, wo er einen spannenden Hintergrund bilden mochte. Es war Vergangenheit. Die Zeiten, in denen man Meinungsverschiedenheiten dadurch löste, indem man den anderen kurzerhand tötete, sollten eigentlich längst vorbei sein. Ihm selbst kam die Vorstellung noch immer lächerlich vor. Aber die Angst in den Gesichtern der Menschen hier war echt.

Die Fähre legte pünktlich ab und nahm Kurs auf die Britischen Inseln. Juan, André und Mike hatten sich einen Platz auf dem Achterdeck erobert, an dem sie wenigstens stehen konnten, ohne sich gegenseitig auf die Zehen zu treten. Falls diese Fähre überhaupt jemals so etwas wie Sitzplätze gehabt hatte, so waren sie entfernt worden, um Platz für mehr Passagiere zu schaffen. Zumindest würde die Überfahrt nicht lange dauern - der Mann, der ihnen die Karten verkauft hatte, hatte gesagt, daß sie kaum zwei Stunden brauchen würden, um England zu erreichen.

Mikes Blick irrte immer wieder auf das Meer hinaus, und er ertappte sich bei der widersinnigen Hoffnung, den Turm der NAUTILUS auftauchen zu sehen.

Natürlich würde das nicht geschehen. Sie hatten vor einer halben Stunde abgelegt, und das bedeutete, daß Trautman jetzt bereits seit anderthalb Stunden unterwegs war, um die NAUTILUS in ihren letzten Hafen zu steuern. Der Gedanke erfüllte ihn mit tiefer Traurigkeit. Er spürte erst jetzt wirklich, wie sehr ihm dieser alte Mann ans Herz gewachsen war.

Aber war es nicht oft im Leben so - daß man erst begriff, wie viel einem ein Mensch bedeutete, wenn er nicht mehr da war?

»Nimm es nicht so schwer«, sagte André leise. »Trautman tut, was er tun muß. Er hat sich diese Entscheidung bestimmt nicht leicht gemacht.«

Mike begriff, daß seine Gedanken ziemlich deutlich auf seinem Gesicht zu lesen sein mußten.

»Ich ... habe nicht daran gedacht«, antwortete er wenig überzeugend. »Ich habe nach Singh und den anderen Ausschau gehalten.«

André zog nur die Augenbrauen zusammen, aber Juan deutete mit der Hand nach vorne.

»Singh und Chris sind irgendwo am Bug, glaube ich«, sagte er. »Ben steht dort drüben und bläst Trübsal.«

Mikes Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Spaniers, und tatsächlich sah er Ben: Er stand nur ein knappes Dutzend Schritte entfernt an die Reling gelehnt da und starrte mit finsterem Gesicht auf das Wasser hinab.

»Wahrscheinlich kann er es immer noch nicht verwinden, nicht als strahlender Held heimzukehren und König Georg die NAUTILUS als Beute zu übergeben«, sagte André spöttisch. Er schwieg ein paar Sekunden, dann fügte er, leiser und in besorgtem Ton, hinzu: »Ich hoffe nur, er hält sich an das, was wir besprochen haben, und erzählt keinen Unsinn.«

Mike verstand seine Sorge. Sie hatten lange über dieses Thema gesprochen und waren schließlich übereingekommen, niemandem zu erzählen, was ihnen in den langen Monaten ihrer Abwesenheit wirklich widerfahren war. Davon abgesehen, daß nach der Zerstörung der NAUTILUS niemand mehr einen Nutzen aus dem Wissen um ihre Existenz ziehen konnte, waren sie sich zumindest in diesem Punkt einig gewesen, daß es besser war, Kapitän Nemos Geheimnis zu bewahren. Aber auch Mike war plötzlich nicht mehr sicher, daß Ben sich auch wirklich an ihre Absprache halten würde. Je näher sie England gekommen waren, desto hartnäckiger hatte er versucht, Trautman von seinem Entschluß abzubringen, und ihn statt dessen dazu zu überreden, das Schiff der Royal Navy zu übergeben, um - wie er es ausdrückte - den Krieg zu beenden.