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Singh senkte den Feldstecher, blinzelte ein paarmal rasch hintereinander und hob das Glas dann noch einmal kurz an die Augen, ehe er es an Trautman weiterreichte, der neben ihm auf dem eisernen Vorderdeck der NAUTILUS stand. Es war ein sehr sonderbares Fernglas - wie fast alle Dinge des täglichen Gebrauchs, die sich an Bord befanden, stammte es noch von den ursprünglichen Besitzern der NAUTILUS - ein großes, bizarres Etwas mit schimmernden Kupferschwingen an den Seiten und Gläsern, die auf den ersten Blick gar nicht durchsichtig erschienen, denn sie waren pechschwarz. Trotzdem vergrößerte es weit besser als jedes andere Fernglas, das Mike je in der Hand gehabt hatte; selbst besser als das armlange Schülerteleskop, das in seinem Zimmer im Internat stand. Und das war nur ein winziges Beispiel dafür, wie unvorstellbar weit die Technologie der untergegangenen Atlanter der des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts überlegen war.

Ausgelöst durch den Anblick des Glases, begannen Mikes Gedanken eigene Wege zu gehen, während er neben Trautman und dem Sikh stand und darauf wartete, zu erfahren, was die beiden hinter dem für ihn leeren Horizont entdeckt hatten.

Annähernd drei Wochen waren vergangen, seit sie Alderney verlassen und wieder Kurs auf den Atlantik genommen hatten. Sowohl die Freude, sich wieder an Bord der NAUTILUS zu befinden, wie auch die Aufregung über Winterfelds neues Vorhaben waren im Laufe der Tage einer gewissen Monotonie gewichen. Dabei war es anfangs aufregender denn je gewesen. Jetzt, wo sie wußten, was die NAUTILUS wirklich war, hatten sie das Schiff gewissermaßen neu entdeckt, und vieles, was ihnen vorher unverständlich und seltsam vorgekommen war, erschien plötzlich in einem anderen Licht. So hatten sie alles neuerlich untersucht und begutachtet - mit Ausnahme des Maschinenraumes, den Trautman ihnen zu betreten strengstens verboten hatte. Trotzdem hatte Mike einen Blick hinter die entsprechende Tür riskiert. Der große, mit unverständlichen Apparaturen vollgestopfte Raum war von einem unheimlichen Dröhnen und einem sonderbaren, blau pulsierenden Licht erfüllt gewesen, das Mike - so verrückt es ihm selbst erschien - auf der Haut gespürt hatte. Er war das unangenehme Kribbeln einen ganzen Tag nicht losgeworden und hatte sich fest vorgenommen, in Zukunft besser auf Trautmans Verbote zu hören.

Was sich nicht verändert hatte, war die Furcht bei der Vorstellung, daß es Winterfeld tatsächlich gelingen könnte, Atlantis zu finden. Die Motoren der NAUTILUS liefen auf vollen Touren, dennoch hatte Mike das Gefühl, daß sie kaum von der Stelle kamen. Geduld war noch nie seine starke Seite gewesen, und der Gedanke daran, daß sie endlose Tage brauchen würden, um ihr Ziel im Atlantik zu erreichen, während Winterfelds Suche vielleicht gerade in diesem Moment schon Erfolg hatte, machte ihn fast wahnsinnig. Und Winterfelds Chancen standen nicht schlecht. Trautman hatte ihnen eine Menge über Professor Arronax erzählt - genug, um Mike und die anderen gebührend neugierig auf ihn zu machen, aber auch genug, ihnen einen gehörigen Respekt einzuflößen.

Arronax gehörte zu den wenigen Menschen, die jemals an Bord der NAUTILUS gewesen waren. Und dieses Erlebnis hatte sein Leben gründlich verändert. Seit jenen Tagen hatte er sich noch mehr der Erforschung der Tiefsee verschrieben - und vor allem der Suche nach dem legendären Atlantis. Wie Trautman erzählt hatte, wußte er mittlerweile ziemlich genau, wo er zu suchen hatte - und verfügte wohl auch über die entsprechenden Mittel. Die von ihm weiterentwickelte Taucherglocke war in der Lage, Hunderte von Metern tief ins Meer hinabzutauchen und somit tiefer als jedes andere Schiff auf der Welt, die NAUTILUS vielleicht ausgenommen.

»Das ist sie«, sagte Trautman und senkte den Feldstecher. »Kein Zweifel. Das ist die LEOPOLD.«

Mike fuhr aus seinen Gedanken hoch. Es erfüllte ihn mit Erleichterung, daß die endlose Zeit der Suche nun vorüber war, aber auch mit Schrecken bei dem Gedanken an das, was noch vor ihnen liegen mochte.

»Da ist noch ein kleineres Schiff«, fuhr Trautman fort. »Das von Arronax, vermute ich.«

»Also ist es wahr«, sagte der Inder düster.

Trautman antwortete nicht.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Ben hinter ihnen. Mike drehte sich herum und stellte fest, daß nicht nur er, sondern auch die drei anderen mittlerweile auf das Deck heraufgekommen waren. »Sie haben doch gesagt, daß das Meer an dieser Stelle etwa sechstausend Meter tief ist.«

»Richtig«, bestätigte Trautman.

»Eben!« sagte Ben. »So tief kann diese Taucherglocke doch bestimmt nicht hinunter.«

»Nicht einmal annähernd«, sagte Trautman. »Aber irgend etwas tun sie dort vorne.«

»Wofür haben wir eigentlich Torpedos an Bord?« brummte Ben. »Wenn wir die LEOPOLD damit unter Beschüß nehmen, bleibt von dem Kahn nicht mehr viel übrig. Auf die Weise kommt Winterfeld viel schneller auf den Meeresgrund. Und das sogar ganz ohne Taucherglocke.«

Er grinste, aber er war der einzige, der das komisch zu finden schien. Mike warf ihm einen zornigen Blick zu. Ben war noch nie gut auf die Deutschen zu sprechen gewesen, aber seit er vom Ausbruch des Krieges erfahren hatte, haßte er sie geradezu. Bereits als Scherz wäre eine solche Bemerkung nicht lustig gewesen, aber Mike kannte Ben gut genug, um zu wissen, daß dieser seine Worte bitterernst meinte.

»Und alle anderen Menschen an Bord gleich mit ihm, wie?« entgegnete er heftig. »Selbst wenn Arronax und seine Leute nicht auf der LEOPOLD wären, käme das gar nicht in Frage.«

»Ach nein? Was hast du denn sonst vor? Willst du Winterfeld vielleicht freundlich bitten, uns den Professor und die Taucherglocke auszuhändigen?« höhnte Ben. »Ich bin sicher, daß er deinem Wunsch sofort bereitwillig nachkommen wird.«

»Schluß jetzt!« befahl Trautman scharf, »Hört auf, euch wie kleine Kinder zu benehmen.« Er wandte sich wieder Singh zu. »Das beste wird vermutlich sein, wenn wir den Tag hier abwarten. Sobald es dunkel geworden ist, nähern wir uns unbemerkt der LEOPOLD und versuchen an Bord zu gelangen. Mit ein wenig Glück können wir Arronax und die anderen befreien, ehe Winterfelds Leute überhaupt merken, daß wir da sind.« Er drehte sich halb herum und ließ seinen Blick suchend über die Gesichter der anderen schweifen. »Chris, schalte bitte die automatische Steuerung aus«, sagte er. »Wir bleiben hier, bis es dunkel ist.«

Während Chris ins Boot zurückflitzte, um zu tun, was Trautman ihm aufgetragen hatte, fragte Mike: »Und die Taucherglocke? Ich meine: Selbst wenn es uns gelingt, den Professor zu befreien, hat Winterfeld noch immer die Glocke.«

»Ohne Arronax nutzt sie ihm nicht viel«, behauptete Trautman. Er schwieg eine Sekunde, bevor er mit einem schrägen Seitenblick auf Ben hinzufügte: »Schlimmstenfalls können wir sie noch immer zerstören. Das wird Arronax zwar das Herz brechen, aber als letzter Ausweg -«

Ein dumpfer Knall wehte über das Meer zu ihnen heran, etwas wie ein weit entfernter, einzelner Donnerschlag, so leise, daß er gerade noch an der Grenze des überhaupt Wahrnehmbaren schien. Trotzdem brach Trautman erschrocken mitten im Satz ab, fuhr herum und starrte mit aufgerissenen Augen nach Westen. »Aber das ist doch ...« murmelte er.

Er lauschte plötzlich gebannt, und nach einer Sekunde hörte auch Mike etwas: ein ganz leises, hohes Pfeifen, das rasch näher kam und dabei immer mehr an Lautstärke gewann. Und es war nicht das erste Mal, daß er ein Geräusch wie dieses hörte.

»Aber das ist doch unmöglich!« keuchte Trautman. »Sie können uns doch überhaupt nicht sehen!«

Aber unmöglich oder nicht - sie alle wußten nur zu gut, was das rasend schnell näher kommende Pfeifen zu bedeuten hatte. Und noch bevor irgendeiner von ihnen etwas sagen konnte, schlug die Granate mit einem ungeheuren Krachen in die Wasseroberfläche ein. Eine turmhohe Schaumsäule explodierte in den Himmel hinauf, und obwohl der Einschlag mehr als hundert Meter entfernt gelegen hatte, erbebte die NAUTILUS unter den Wellen, die plötzlich gegen ihre Flanke schlugen.