»Piggott«, spuckte Kit abgestoßen aus. Das hätte sie sich denken können.
Seine Zunge hing heraus, und Piggott gab sich größte Mühe, sich herumzuwerfen, um seinen Angreifer abzuschütteln. Doch Mita hielt sich hartnäckig fest und war klug genug, mit seinem freien Arm auf das verstümmelte Ohr des dicken Wirts zu schlagen. Piggott schimpfte und fluchte unverständliches Zeug.
Dann ging alles so schnell, daß Kitiara es später schwerfiel, alles zusammenzusetzen.
Der erste Kagonesti hatte sie erreicht, und sie wehrte ihn mit Finten und kurzen, schnellen Ausfällen mit dem Schwert ab. Er war ein geübter Kämpfer, doch Kitiaras blanke Klinge schüchterte ihn ein. Sie reflektierte das Mondlicht und funkelte in ihrer Hand, und Kitiara wußte genau, daß der Kagonesti davor Angst hatte, auch wenn er kaum zurückwich.
Der andere Elf war ebenfalls vorgestürmt, um seinen beiden Gefährten zu helfen. Als er die geradezu komisch kämpfenden beiden, Piggott und Mita, erreicht hatte, fuhr der Wirt herum. Der Kagonesti sprang vor und stach den armen Mita in die Seite. Der Junge schrie auf, verlor den Halt und fiel zu Boden.
Kitiara bekam all das nur aus dem Augenwinkel mit, denn sie hatte eigene Sorgen. Der Kagonesti, der ihr zu schaffen machte, erwies sich als zäh. Es war ihm gelungen, sie rücklings gegen einen Baum zu drängen und gleichzeitig ihren immer wilderen Hieben aus dem Weg zu gehen. Jetzt konnte sie nicht mehr weiter zurück, und er kam näher.
Der andere Kagonesti kam ihm zur Hilfe und rief etwas in ihrer unverständlichen Sprache.
Piggott richtete sich gerade auf, um Luft zu holen, als ihm von unten sein eigenes Messer fest und tief in den dicken Wanst gestoßen wurde. Der gräßliche Mann schrie auf vor Pein. Als er sprachlos nach unten sah, schlitzte ihm sein bestes Küchenmesser den Bauch bis hinauf zum Brustbein auf. Paulus umklammerte den Griff.
Der erste Kagonesti beging den Fehler, sich nach dem Geschehen hinter sich umzusehen, und ehe er sich versah, war Kitiara vorgesprungen und hatte ihn tief und tödlich ins Herz getroffen.
Jetzt kam Paulus angerannt, in der einen Hand einen großen Stein vom Lagerfeuer, in der anderen das Messer. Sein Gesichtsausdruck war furchterregend.
Der zweite Kagonesti hatte innegehalten, sich leicht gedreht und hielt jetzt sowohl die junge Frau als auch den Zwerg auf Abstand, indem er sein Schwert mit der Spitze nach vorn vor sich hielt. Er war eindeutig in Panik.
Langsam kamen Kitiara und Paulus näher. Überraschend plötzlich schoß der Elf mit drohend erhobenem Schwert auf sie zu. Als sie den nötigen Schritt rückwärts machten, wirbelte er herum und verschwand so schnell im Gebüsch, daß sie kaum reagieren konnten.
Eine kleine Ewigkeit lang standen Kit und Paulus da und sahen ihm nach, doch sie sahen und hörten nichts mehr. Schließlich ließ der Zwerg seine Waffen fallen.
Nachdem sie den Leichen alles Wertvolle abgenommen hatten, ließen Kitiara und Paulus Piggott und den Kagonesti für die wilden Tiere liegen. Mita hingegen begruben sie so gut wie möglich unter einem flachen Hügel aus Zweigen und Blättern.
»Er war dumm«, meinte Paulus, als er mit vor Trauer zitternder Stimme am Grab stand.
»Nein, er war mutig«, sagte Kitiara.
Sie ritten noch zwei Tage nach Süden, wobei sie Mitas Pferd und all seinen Besitz mitnahmen. Auf einem hohen Paß, wo die Berge sich teilten und zwei Straßen in verschiedene Richtungen abgingen, beschlossen sie, sich zu trennen. Kit hatte Paulus bedrängt, alle Sachen von Mita mitzunehmen, doch der wollte nichts davon hören. Sie war ihrerseits nicht auf das aus, was ihr Freund hinterlassen hatte, so daß sie dort oben dem Palomino des Jungen alles abnahmen und dann das Pferd freiließen.
Von hier aus konnte man in eine enge, tiefe Schlucht sehen, in die Paulus Stück für Stück all die sorgfältig gepackten Taschen und Bündel hinunterwarf, immer so weit wie möglich über die steilen Wände des Abgrunds. Sie konnten sie nicht aufschlagen hören.
»Irgendwie Verschwendung«, sagte Kit.
»Sein ganzes Leben war verschwendet«, antwortete Paulus, der zur Seite sah.
»Wo willst du hin?« fragte Kit, als sie wieder zu Cinnamon zurückging und den Aufbruch vorbereitete.
»Weiß nicht«, sagte Paulus, der bereits aufstieg. »Irgendwo anders hin, das steht fest.«
»Tust du mir einen Gefallen?« fragte Kit ernst. »Erzähl niemandem von, ähm, dem Ganzen hier… aber vor allem nicht von meinem Schwert.« Sie griff nach unten und tätschelte die wertvolle Waffe. Die eingewickelte Klinge hing an dem Sattel, den sie Piggotts Pferd abgenommen hatte.
»Mach ich«, sagte Paulus und sah ihr ins Gesicht. »Und ich frage auch nicht, warum.«
»Viel Glück«, sagte sie.
»Viel Glück!«
Paulus ritt als erster los. Sein Verhalten war so unverbindlich wie bei ihrer ersten Begegnung. Kit saß auf Cinnamon da und sah zu, wie der gutaussehende Zwerg mit dem Zopf auf den schmaleren Pfad nach Westen, zur Hauptstraße, verschwand. Nach einer Weile galoppierte sie dann in Richtung Solace los.
9
Wieder zu Hause
Als Kitiara in Solace ankam, war es Spätsommer, und die Äste der majestätischen Vallenholzbäume formten ein smaragdgrünes Blätterdach über ihr. Die vertrauten Gerüche spornten Cinnamon an. Das Pferd brauchte keinerlei Hilfe, um den Weg zu seinem alten Stall im Schuppen hinter dem Haus der Majeres zu finden. Kit tränkte die Stute und nahm dann im Gedenken an Ursas Warnung Becks Schwert und versteckte es unter einem unverdächtigen Heuhaufen. Später würde sie die Waffe in ihr Dachzimmer hochschmuggeln.
Mit gemischten Gefühlen stieg sie die Wendeltreppe nach Hause hoch.
Es war bald Essenszeit. Kit wußte, daß wahrscheinlich die ganze Familie daheim sein würde. Als sie gerade eintreten wollte, ging die Tür auf, und Caramon stürzte sich auf sie. Er kreischte vor Aufregung.
»Du bist wirklich wieder da! Raist hatte recht! Er hat gesagt, du würdest hier sein, wenn ich die Tür aufmache. Ich habe mit ihm um eine Packung Kandis gewettet, daß du nicht da bist, aber die geb’ ich ihm gern.«
Caramon nahm Kit bei der Hand und zog sie ins Haus. Rosamunds Tür war fast geschlossen, und Gilon war nicht da. Obwohl es ein warmer Spätnachmittag war, hatte Raistlin seinen Stuhl nah an den Herd gezogen. Auf seinem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch. Neugier, Bewunderung, Trotz und eine gewisse Gereiztheit vermengten sich in dem Blick, den er Kit schenkte.
»Ich habe dich nicht so früh zurück erwartet. Hat sich die Reise gelohnt?« fragte Raist sie ernst.
Kit grinste. Der kleine Raist war immer noch derselbe. »Sagen wir mal, sie hat ein paar unvorhergesehene Wendungen genommen. Seht selbst, ob sie sich gelohnt hat.«
Caramon, der ahnte, daß es gleich Geschenke geben würde, begann, neben Kit auf und ab zu hüpfen. »Oh, sie hat uns etwas mitgebracht. Das sollte aber was Gutes sein; schließlich warst du den ganzen Sommer weg.«
Schwungvoll zog Kit zwei kleine Päckchen aus ihrer Tasche. Obwohl Raist kühl und gefaßt erscheinen wollte, sprang auch er vom Stuhl und lief zu Kit. Das erste Päckchen gab sie Caramon. Er riß die einfache Verpackung auf und stieß angesichts des Kurzschwerts, das sie ihm mitgebracht hatte, einen Freudenschrei aus.
»Das muß aber teuer gewesen sein!« krähte Caramon, der es bewundernd hin- und herdrehte.
In Wahrheit hatte Kit das Schwert dem toten Kagonesti abgenommen, aber es gab keinen Grund, Caramon das zu erzählen. »Paß auf, daß du dich nicht schneidest«, ermahnte sie ihn.
Raist packte sein kleineres Paket langsamer aus, wirkte jedoch genauso begeistert über seine Lederfläschchen.
»Und die waren erst mal teuer!« sagte Kit augenzwinkernd zu Raist. Der tote Kagonesti hatte auch sie beigesteuert.
Als die beiden Jungen ihre Mitbringsel untersuchten, kam Gilon mit Kräutern und anderen Lebensmitteln herein. Er wirkte gehetzt. Überrascht sah er Kit an, doch dieser ersten Reaktion folgte sofort ein herzliches, breites Lächeln. Weil er die Hände voll hatte, konnte er die etwas peinliche Entscheidung umgehen, ob sie sich nun umarmen sollten oder nicht.