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Es fiel ihm im übrigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz seiner Müdigkeit. Dieses Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig anderen Mädchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten und auch kein sehnsüchtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes, sinnvolles, gewissermaßen ein tätiges Warten. Es tat sich etwas während dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es würde von Erfolg gekrönt sein… Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst, dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gefühlt, so ruhig, so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst – auch damals nicht in seinem Berg – wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die einzigen Momente, da sich in seinem düsteren Hirn fast heitere Gedanken bildeten.

Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten würde, nicht an das Parfum aus fünfundzwanzig Mädchenauren, nicht an künftige Pläne, Glück und Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis, des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres großen tausendfach schillernden üblen Brodems, er gedachte des rothaarigen Mädchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des dünnen Winds, der Wälder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne – er umging diese Erinnerung keineswegs – , seiner Höhle, der menschenleeren Luft. Er gedachte auch seiner Träume. Und er gedachte all dieser Dinge mit großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zurückdachte, dass er ein vom Glück besonders begünstigter Mensch sei und dass sein Schicksal ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen geführt habe – wie wäre es sonst möglich gewesen, dass er hierhergefunden hätte, in diese dunkle Kammer, ans Ziel seiner Wünsche? Er war, wenn er sich's recht überlegte, ein wirklich begnadetes Individuum!

Rührung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. »Ich danke dir«, sagte er leise, »ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du bist!« So ergriffen war er von sich selbst.

Dann schloss er die Lider – nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erfüllte sein Herz. Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres. Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts störte den Frieden.

Einmal bog er seinen Fuß zur Seite und berührte ganz sacht den Fuß von Laure. Nicht ihren Fuß eigentlich, sondern gerade eben das Tuch, das ihn umhüllte, mit der dünnen Schicht Fett darunter, die sich mit ihrem Duft tränkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem.

46

Als die Vögel zu schreien begannen – also noch geraume Zeit vor Anbruch der Morgendämmerung –, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett schälte sich gut von der Haut. Nur an den verwinkelten Stellen blieben einige Reste hängen, die er mit dem Spatel abstreichen musste. Die übrigen Pomadeschlieren wischte er mit Laures eigenem Unterhemd auf, mit dem er zuletzt auch noch den Körper von Kopf bis Fuß abrubbelte, so gründlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Krümeln von der Haut rieb, und mit ihm die letzten Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst war sie für ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Blütenabfall.

Er warf das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein sie weiterlebte, legte das Nachtgewand mit ihren Haaren dazu und rollte alles zu einem kleinen festen Paket zusammen, das er sich unter den Arm klemmte. Er nahm sich nicht die Mühe, die Leiche auf dem Bett zuzudecken. Und obwohl die Nachtschwärze sich schon ins Blaugraue der Morgendämmerung verwandelt hatte und die Dinge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem Leben mit Augen zu sehen. Ihre Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war für ihn als Körper gar nicht mehr vorhanden, nur noch als körperloser Duft. Und diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich.

Leise schwang er sich auf die Brüstung des Fensters und stieg die Leiter hinab. Draußen war wieder Wind aufgekommen, und der Himmel klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht über das Land.

Eine halbe Stunde später schlug die Magd in der Küche Feuer. Als sie vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs ging die Sonne auf. Riesig und goldrot hob sie sich zwischen den beiden Lerinischen Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender Frühlingstag begann.

Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum ersten Mal seit Monaten wirklich prächtig geschlafen und blieb entgegen seiner Gewohnheit noch eine Viertelstunde lang liegen, räkelte sich und seufzte vor Vergnügen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der Küche heraufdrang. Als er dann aufstand und das Fenster weit öffnete und draußen das schöne Wetter gewahrte und die frische würzige Morgenluft einsog und die Brandung des Meeres hörte, da kannte seine gute Laune keine Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie.

Während er sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als er sein Zimmer verließ und mit beschwingtem Schritt über den Gang an die Kammertüre seiner Tochter trat. Er pochte. Und pochte wieder, ganz leise, um sie nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort. Er lächelte. Er verstand gut, dass sie noch schlief.

Vorsichtig schob er den Schlüssel ins Loch und drehte den Riegel, leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie noch im Schlaf vorzufinden, aus dem er sie wachküssen wollte, noch einmal, zum letzten Mal, ehe er sie einem ändern Mann geben musste.

Die Türe sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins Gesicht. Die Kammer war wie von gleißendem Silber gefüllt, alles strahlte, und er musste vor Schmerz für einen Moment die Augen schließen.

Als er sie wieder öffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den er vorvergangene Nacht in Grasse gehabt und wieder vergessen hatte, und dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Gedächtnisuhr. Alles war mit einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller.