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Unterdessen wurde der Cours für die Hinrichtung vorbereitet. Zimmerleute bauten ein Schafott, drei mal drei Meter groß und zwei Meter hoch, mit Geländer und einer soliden Treppe – ein so prächtiges hatte man in Grasse noch nie gehabt. Dazu eine Holztribüne für die Honoratioren und einen Zaun gegen das gemeine Volk, das in gewisser Distanz gehalten werden sollte. Die Fensterplätze in den Häusern links und rechts der Porte du Cours und im Gebäude der Wache waren längst zu exorbitanten Preisen vermietet. Sogar in der etwas seitwärts gelegenen Charité hatte der Gehilfe des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit hohem Gewinn an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverkäufer mischten kannenweise Lakritzenwasser auf Vorrat, der Kupferstecher druckte seine im Gefängnis genommene und aus der Phantasie noch ein wenig rasanter gestaltete Skizze des Mörders in vielen hundert Exemplaren, fliegende Händler strömten zu Dutzenden in die Stadt, die Bäcker buken Gedenkplätzchen.

Der Scharfrichter, Monsieur Papon, der schon seit Jahren keinen Delinquenten mehr zu zerbrechen gehabt hatte, ließ sich eine schwere vierkantige Eisenstange schmieden und ging damit in den Schlachthof, um an Tierkadavern seine Hiebe zu üben. Zwölf Schläge durfte er nur führen, und mit diesen mussten die zwölf Gelenke sicher zerbrochen werden, ohne dass wertvolle Teile des Körpers, wie etwa Brust oder Kopf, beschädigt würden – ein diffiziles Geschäft, das größtes Fingerspitzengefühl erforderte.

Die Bürger bereiteten sich auf das Ereignis wie auf einen hohen Festtag vor. Dass nicht gearbeitet werden würde, verstand sich von selbst. Die Frauen bügelten ihr Feiertagshabit, die Männer staubten ihre Röcke aus und ließen sich die Stiefel glänzend putzen. Wer eine Militärcharge oder ein Amt besaß, wer Gildenmeister war, Advokat, Notar, Direktor einer Bruderschaft oder sonst etwas Bedeutendes, der legte Uniform und offizielle Tracht an, mit Orden, Schärpen, Ketten und mit kreideweiß gepuderter Perücke. Die Gläubigen gedachten sich post festum zum Gottesdienst zu versammeln, die Satansjünger zu einer deftigen luziferischen Dankmesse, die gebildete Noblesse zur magnetischen Seance in den Hotels der Cabris', Villeneuves und Fontmichels. In den Küchen wurde schon gebacken und gebraten, aus den Kellern Wein geholt und vom Markt der Blumenschmuck, in der Kathedrale probten Organist und Kirchenchor.

Im Hause Richis an der Rue Drohe blieb es still. Richis hatte sich jede Zurüstung für den »Tag der Befreiung«, als welchen das Volk den Hinrichtungstag des Mörders bezeichnete, verbeten. Ihm war alles ein Ekel. Die plötzlich wiederaufbrechende Furcht der Menschen war ihm ein Ekel gewesen, ihre fiebrige Vorfreude war ihm ein Ekel. Sie selbst, die Menschen, alle miteinander, waren ihm ein Ekel. Er hatte sich nicht an der Präsentation des Täters und seiner Opfer auf dem Platz vor der Kathedrale beteiligt, nicht am Prozess, nicht am widerwärtigen Defilee der Sensationslüsternen vor der Zelle des Verurteilten. Zur Identifikation der Haare und Kleider seiner Tochter hatte er das Gericht zu sich nach Hause bestellt, kurz und gefasst seine Aussage gemacht und gebeten, man möge ihm die Dinge als Reliquien überlassen, was auch geschah. Er trug sie in Laures Kammer, legte das zerschnittene Nachthemd und das Leibchen auf ihr Bett, breitete die roten Haare übers Kissen und setzte sich davor und verließ die Kammer Tag und Nacht nicht mehr, als wolle er durch diese sinnlose Wache gutmachen, was er in der Nacht von La Napoule versäumt hatte. Er war so erfüllt von Ekel, Ekel vor der Welt und vor sich selbst, dass er nicht weinen konnte.

Auch vor dem Mörder empfand er Ekel. Er wollte ihn nicht mehr als Menschen sehen, nur noch als Opfer, das geschlachtet würde. Erst bei der Hinrichtung wollte er ihn sehen, wenn er auf dem Kreuz lag und die zwölf Schläge auf ihn niederkrachten, dann wollte er ihn sehen, ganz nah wollte er ihn dann sehen, er hatte sich einen Platz in vorderster Reihe reservieren lassen. Und wenn sich das Volk verlaufen hätte, nach ein paar Stunden, dann wollte er hinaufsteigen zu ihm aufs Blutgerüst und sich neben ihn setzen und Wache halten, nächtelang, tagelang, wenn es sein musste, und ihm dabei in die Augen schauen, dem Mörder seiner Tochter, und ihm den ganzen Ekel in die Augen träufeln, der in ihm war, den ganzen Ekel in seinen Todeskampf hineinschütten wie eine brennende Säure, so lange, bis das Ding verreckt war…

Danach? Was er danach tun würde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder sein gewohntes Leben aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen Sohn zeugen, vielleicht nichts tun, vielleicht sterben. Es war ihm völlig gleichgültig. Darüber nachzudenken erschien ihm so sinnlos, als dächte er darüber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts natürlich. Nichts, was er jetzt schon wissen könnte.

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Die Hinrichtung war auf fünf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Plätze. Sie brachten Stühle und Trittbänkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder. Als gegen Mittag die Landbevölkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen herbeiströmte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuankömmlinge auf den terrassenförmig ansteigenden Gärten und Feldern jenseits des Platzes und auf der Straße nach Grenoble lagern mussten. Die Händler machten bereits gute Geschäfte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasminkönigin, mehr als zur größten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die Hänge hinauf standen sie. Sie hingen in den Bäumen, sie hockten auf den Mauern und Dächern, sie drängten sich zu zehnt, zu zwölft in den Fensteröffnungen. Nur im Zentrum des Cours, geschützt vom Barrikadenzaun, wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier Platz für die Tribüne und für das Schafott, das sich plötzlich ganz klein ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die Bühne eines Puppentheaters. Und eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du Cours und in die Rue Droite hinein.

Kurz nach drei erschienen Monsieur Papon und seine Gehilfen. Beifall rauschte auf. Sie trugen das aus Holzbalken gefügte Andreaskreuz zum Schafott und brachten es auf die geeignete Arbeitshöhe, indem sie es mit vier schweren Tischlerböcken unterstützten. Ein Tischlergeselle nagelte es fest. Jeder Handgriff der Henkersknechte und des Tischlers wurde von der Menge mit Applaus bedacht. Als dann Papon mit der Eisenstange herbeitrat, das Kreuz umging, seine Schritte ausmaß, bald von dieser, bald von jener Seite einen imaginierten Schlag führte, brach regelrechter Jubel aus.

Um vier begann sich die Tribüne zu füllen. Es gab viel feine Leute zu bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, schöne Damen, große Hüte, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angeführt von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Strümpfe, schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung des Gerichtspräsidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl, in leuchtend violettem Ornat und grünem Hütchen. Wer noch bedeckt war, nahm spätestens jetzt die Mütze ab. Es wurde feierlich.

Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles wartete. Papon und seine Knechte standen auf der Bühne des Schafotts wie angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb über dem Esterei. Aus dem Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenblüten herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.