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Endlich, als man schon meinte, die Spannung könne nicht länger andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, hörte man in der Stille Pferdegetrappel und das Knirschen von Rädern.

Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweispänniger Wagen gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und erschien, nun für jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum Richtplatz führte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorführung bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu können glaubte. Üblich war sie durchaus nicht. Das Gefängnis lag kaum fünf Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bewältigte, so hätte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.

Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil. Man war zufrieden, dass überhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der Kutsche für einen gelungenen Einfall, ähnlich wie im Theater, wo man es schätzt, wenn ein bekanntes Stück auf überraschend neue Weise präsentiert wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so außergewöhnlich abscheulichen Verbrecher gebührte eine außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordinären Straßenräuber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran wäre nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das Andreaskreuz zu führen – das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.

Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Tribüne. Die Lakaien sprangen ab, öffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße Seidenstrümpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand führte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.

Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas Ähnliches wie ein Wunder, nämlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerhörtes und Unglaubliches, dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben würden, wenn sie überhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen wären, was nicht der Fall war, da sie sich später allesamt schämten, überhaupt daran beteiligt gewesen zu sein.

Es war nämlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf den umliegenden Hängen sich von einem Moment zum anderen von dem unerschütterlichen Glauben durchtränkt fühlten, der kleine Mann im blauen Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, könne unmöglich ein Mörder sein. Nicht dass sie an seiner Identität zweifelten! Da stand derselbe Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Prévoté gesehen hatten und den sie, wären sie damals seiner habhaft geworden, in wütendem Hass gelyncht hätten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund erdrückender Beweise und eigenen Geständnisses rechtskräftig verurteilt worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch vor einer Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch – er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er konnte kein Mörder sein. Der Mann, der auf dem Richtplatz stand, war die Unschuld in Person. Das wussten in diesem Moment alle vom Bischof bis zum Limonadenverkäufer, von der Marquise bis zur kleinen Wäscherin, vom Präsidenten des Gerichts bis zum Gassenjungen.

Auch Papon wusste es. Und seine Fäuste, die den Eisenstab umklammert hielten, zitterten. Ihm war mit einem Mal so schwach in seinen starken Armen, so weich in den Knien, so bang im Herzen wie einem Kind. Er würde diesen Stab nicht heben können, niemals im Leben würde er die Kraft aufbringen, ihn gegen den kleinen unschuldigen Mann zu erheben, ach, er fürchtete den Moment, da er heraufgeführt würde, er schlotterte, er musste sich auf seinen mörderischen Stab stützen, um nicht vor Schwäche in die Knie zu sinken, der große, starke Papon!

Nicht anders erging es den zehntausend Männern und Frauen und Kindern und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine Mädchen, die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es überkam sie ein mächtiges Gefühl von Zuneigung, von Zärtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit, ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Mördermann, und sie konnten, sie wollten nichts dagegen tun. Es war wie ein Weinen, gegen das man sich nicht wehren kann, wie ein lange zurückgehaltenes Weinen, das aus dem Bauch aufsteigt und alles Widerständliche wunderbar zersetzt, alles verflüssigt und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und Seele aufgelöst, nur noch von amorpher Flüssigkeit, und einzig ihr Herz spürten sie als haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und legten es, eine jede, ein jeder, in die Hand des kleinen Mannes im blauen Rock, auf Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn.

Grenouille stand nun wohl schon mehrere Minuten lang am geöffneten Schlag der Kutsche und rührte sich nicht. Der Lakai neben ihm war in die Knie gesunken und sank noch immer weiter bis hin zu jener völlig prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor Allah üblich ist. Und selbst in dieser Haltung zitterte und schwankte er noch und wollte weitersinken, sich flach auf die Erde legen, in sie hinein, unter sie. Bis ans andre Ende der Welt wollte er sinken vor lauter Ergebenheit. Der Offizier der Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige Männer, deren Aufgabe es gewesen wäre, den Verurteilten jetzt aufs Blutgerüst zu führen und seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr zustande bringen. Sie weinten und nahmen ihre Hüte ab, setzten sie wieder auf, warfen sie zu Boden, fielen sich gegenseitig in die Arme, lösten sich, fuchtelten unsinnig mit den Armen in der Luft herum, rangen die Hände, zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene.

Die weiter entfernt befindlichen Honoratioren gaben sich ihrer Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ dem Drang seines Herzens freien Lauf. Da waren Damen, die sich beim Anblick Grenouilles die Fäuste in den Schoß stemmten und seufzten vor Wonne; und andere, die vor sehnsüchtigem Verlangen nach dem herrlichen Jüngling – denn so erschien er ihnen – sang- und klanglos in Ohnmacht versanken. Da waren Herren, die in einem fort von ihren Sitzen aufspritzten und sich wieder niederließen und wieder aufsprangen, mächtig schnaufend und die Fäuste um die Degengriffe ballend, als wollten sie ziehen, und, indem sie schon zogen, den Stahl wieder zurückstießen, dass es in den Scheiden nur so klapperte und knackte; und andere, die die Augen stumm zum Himmel richteten und ihre Hände zum Gebet verkrampften; und Monseigneur, der Bischof, der, als sei ihm übel, mit dem Oberkörper vornüberklappte und die Stirn auf seine Knie schlug, bis ihm das grüne Hütchen vom Kopfe kollerte; und dabei war ihm gar nicht übel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in seinem Leben in religiösem Entzücken, denn ein Wunder war geschehen vor aller Augen, der Herrgott höchstpersönlich war dem Henker in den Arm gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt ein Mörder schien – o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß war der Herr! Und wie klein und windig war man selbst, der man einen Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung des Volkes! O welche Anmaßung, o welche Kleingläubigkeit! Und nun tat der Herr ein Wunder! O welch herrliche Demütigung, welch süße Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gezüchtigt zu werden.