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Und er breitete seine Arme aus, um den heranstürzenden Engel zu empfangen. Schon glaubte er, den Dolch- oder Degenstoß als herrlich prickelnden Schlag gegen die Brust zu spüren und die Klinge, die durch alle Duftpanzer und stickigen Nebel hindurchging, mitten in sein kaltes Herz hinein – endlich, endlich etwas in seinem Herzen, etwas anderes als er selbst! Er fühlte sich fast schon erlöst.

Doch dann lag mit einem Mal Richis an seiner Brust, kein rächender Engel, sondern ein erschütterter, kläglich schluchzender Richis, und umfing ihn mit den Armen, krallte sich regelrecht fest an ihm, als fände er sonst keinen Halt in einem Meer von Glückseligkeit. Kein befreiender Dolchstoß, kein Stich ins Herz, nicht einmal in Fluch oder nur ein Schrei des Hasses. Statt dessen Richis' tränennasse Wange an der seinen klebend und ein zitternder Mund, der ihm zuwinselte: »Vergib mir, mein Sohn, mein lieber Sohn, vergib mir!«

Da wurde es ihm von innen her weiß vor Augen, und die äußere Welt wurde rabenschwarz. Die gefangenen Nebel gerannen zu einer tobenden Flüssigkeit wie kochende, schäumende Milch. Sie überfluteten ihn, pressten mit unerträglichem Druck gegen die innere Schalenwand seines Körpers, ohne Auslass zu finden. Er wollte fliehen, um Himmels willen fliehen, aber wohin… Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht an sich selbst zu ersticken. Endlich sank er nieder und verlor das Bewusstsein.

50

Als er wieder zu sich kam, lag er im Bett der Laure Richis. Ihre Reliquien, Kleider und ihr Haar, waren weggeräumt worden. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch. Durch das angelehnte Fenster hörte er von Ferne den Jubel der feiernden Stadt. Antoine Richis saß auf einem Schemel neben dem Bett und wachte. Er hatte Grenouilles Hand in die seine gelegt und streichelte sie.

Noch bevor er die Augen aufschlug, prüfte Grenouille die Atmosphäre. Im Innern war sie still. Nichts brodelte und presste mehr. Es herrschte wieder die gewohnte kalte Nacht in seiner Seele, die er brauchte, um sein Bewusstsein frostig und klar zu machen und nach außen zu lenken: Dort roch er sein Parfum. Es hatte sich verändert. Die Spitzen waren etwas schwächer geworden, so dass nun die Herznote von Laures Geruch noch herrlicher hervortrat, ein mildes, dunkles, funkelndes Feuer. Er fühlte sich sicher. Er wusste, dass er noch für Stunden unangreifbar war, und öffnete die Augen.

Richis' Blick ruhte auf ihm. Unendliches Wohlwollen lag in diesem Blick, Zärtlichkeit, Rührung und die hohle, dümmliche Tiefe des Liebenden.

Er lächelte und drückte Grenouilles Hand fester und sagte: »Es wird jetzt alles gut werden. Der Magistrat hat dein Urteil kassiert. Alle Zeugen haben abgeschworen. Du bist frei. Du kannst tun, was du willst. Aber ich will, dass du bei mir bleibst. Ich habe eine Tochter verloren, ich will dich als meinen Sohn gewinnen. Du bist ihr ähnlich. Du bist schön wie sie, deine Haare, dein Mund, deine Hand… Ich habe die ganze Zeit deine Hand gehalten, deine Hand ist wie die ihre. Und wenn ich in deine Augen sehe, so ist mir, als schaue sie mich an. Du bist ihr Bruder, und ich will, dass du mein Sohn wirst, meine Freude, mein Stolz, mein Erbe. Leben deine Eltern noch?«

Grenouille schüttelte den Kopf, und Richis' Gesicht wurde puterrot vor Glück. »Dann wirst du mein Sohn werden?« stammelte er und fuhr von seinem Schemel hoch, um sich auf den Rand des Bettes zu setzen und auch Grenouilles zweite Hand zu pressen. »Wirst du? Wirst du? Willst du mich zu deinem Vater haben? Sage nichts! Sprich nicht! Du bist noch zu schwach, um zu sprechen. Nicke nur!«

Grenouille nickte. Da brach Richis das Glück wie roter Schweiß aus allen Poren, und er beugte sich zu Grenouille herab und küsste ihn auf den Mund.

»Schlaf jetzt, mein lieber Sohn!« sagte er, als er sich wieder aufgerichtet hatte. »Ich werde bei dir wachen, solange bis du eingeschlafen bist.« Und nachdem er ihn eine lange Zeit in stummer Seligkeit betrachtet hatte: »Du machst mich sehr, sehr glücklich.«

Grenouille zog die Mundwinkel leicht auseinander, wie er es den Menschen abgeschaut hatte, die lächeln. Dann schloss er die Augen. Er wartete eine Weile, ehe er seinen Atem ruhiger und tiefer gehen ließ, wie es die Schläfer tun. Er spürte Richis' liebenden Blick auf seinem Gesicht. Einmal spürte er, wie Richis sich abermals vorbeugte, um ihn zu küssen, es dann aber unterließ, aus Scheu, ihn zu wecken. Endlich wurde die Kerze ausgeblasen, und Richis schlich sich auf Zehenspitzen aus der Kammer.

Grenouille blieb liegen, bis er in Haus und Stadt kein Geräusch mehr hörte. Als er dann aufstand, dämmerte es schon. Er kleidete sich an und machte sich davon, leise über den Flur, leise die Stiege hinab und durch den Salon hinaus auf die Terrasse. Von hier aus konnte man über die Stadtmauersehen, über die Schüssel des Grasser Landes, bei klarem Wetter wohl auch bis zum Meer. Jetzt hing ein dünner Nebel, ein Dunst eher, über den Feldern, und die Düfte, die von dorther kamen, Gras, Ginster und Rose, waren wie gewaschen, rein, simpel, tröstlich einfach. Grenouille durchquerte den Garten und stieg über die Mauer.

Oben am Cours musste er sich noch einmal durch Menschendünste kämpfen, ehe er das freie Land gewann. Der ganze Platz und die Hänge glichen einem riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den Ausschweifungen des nächtlichen Festes erschöpften Gestalten herum, manche nackt, manche halb entblößt und halb bedeckt von Kleidern, unter die sie sich wie unter ein Stück Decke verkrochen hatten. Es stank nach saurem Wein, nach Schnaps, nach Schweiß und Pisse, nach Kinderscheiße und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten noch die Feuerstellen, an denen sie gebraten, gesoffen und getanzt hatten. Hie und da gluckste noch aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Gelächter auf. Es mag auch sein, dass manch einer noch wachte und sich die letzten Fetzen von Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der über die verstreuten Leiber stieg, vorsichtig und rasch zugleich, wie durch Morast. Und wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er duftete nicht mehr. Das Wunder war vorbei.

Am Ende des Cours angelangt, nahm er nicht die Straße nach Grenoble, nicht die nach Cabris, sondern er ging querfeldein in westliche Richtung davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Als die Sonne aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er längst verschwunden.

Die Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die nicht getrunken hatten, war bleischwer im Kopf und speiübel in Magen und Gemüt. Auf dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach den Kleidern, die sie im Exzess der Orgie von sich geschleudert hatten, suchten sittsame Frauen nach ihren Männern und Kindern, schälten sich wildfremde Menschen entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte, Nachbarn, Gatten plötzlich in peinlichster öffentlicher Nacktheit gegenüber.

Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollständig unerklärlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen Vorstellungen, dass sie es buchstäblich im Augenblick seines Stattfindens aus ihrem Gedächtnis löschten und sich infolgedessen auch später wahrhaftig nicht mehr daran zurückerinnern konnten. Andere, die ihren Wahrnehmungsapparat nicht so souverän beherrschten, versuchten, wegzuschauen und wegzuhören und wegzudenken was nicht ganz einfach war, denn die Schande war zu offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten und seine Angehörigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauffällig wie möglich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt.

Die Leute in der Stadt kamen, wenn überhaupt, erst gegen Abend aus den Häusern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man grüßte sich nur flüchtig beim Begegnen, sprach nur über das Belangloseste. Über die Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So hemmungslos und frisch heraus man sich gestern noch gegeben hatte, so schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig. Nie schien das Einvernehmen unter den Grasser Bürgern besser als in jener Zeit. Man lebte wie in Watte.