Выбрать главу

Manche freilich mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem befassen, was geschehen war. Die Kontinuität des öffentlichen Lebens, die Unverbrüchlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen. Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite Konsul, umarmten sich stumm, als gelte es, das Gremium durch diese verschwörerische Geste neu zu konstituieren. Dann beschloss man una anima und ohne dass der Vorkommnisse oder gar des Namens Grenouille auch nur Erwähnung getan worden wäre, »die Tribüne und das Schafott auf dem Cours unverzüglich abreißen zu lassen und den Platz und die umliegenden zertrampelten Felder wieder in ihren vormaligen ordentlichen Zustand versetzen zu lassen«. Hierfür wurden hundertsechzig Livre bewilligt.

Gleichzeitig tagte das Gericht in der Prévoté. Der Magistrat kam ohne Aussprache überein, den »Fall G.« als erledigt zu betrachten, die Akten zu schließen und ohne Registratur zu archivieren und ein neues Verfahren gegen einen bislang unbekannten Mörder von fünfundzwanzig Jungfrauen im Grasser Raum zu eröffnen. An den Polizeilieutenant erging der Befehl, die Untersuchungen unverzüglich aufzunehmen.

Schon am nächsten Tag wurde er fündig. Aufgrund eindeutiger Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot, Maitre Parfumeur in der Rue de la Louve, in dessen Kabane ja schließlich die Kleider und Haare sämtlicher Opfer gefunden worden waren. Von seinem anfänglichen Leugnen ließen sich die Richter nicht täuschen. Nach vierzehnstündiger Folter gestand er alles und bat sogar um eine möglichst baldige Hinrichtung, die ihm schon für den folgenden Tag gewährt wurde. Man knüpfte ihn im Morgengrauen auf, ohne großes Tamtam, ohne Schafott und Tribünen, im Beisein lediglich des Henkers, einiger Mitglieder des Magistrats, eines Arztes und eines Priesters. Die Leiche ließ man, nachdem der Tod eingetreten, festgestellt und protokollarisch niedergelegt war, unverzüglich beisetzen. Damit war der Fall erledigt.

Die Stadt hatte ihn ohnehin schon vergessen, und zwar so vollständig, dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen und sich beiläufig nach dem berüchtigten Grasser Mädchenmörder erkundigten, nicht einen einzigen vernünftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft hätte erteilen können. Nur ein paar Narren aus der Charité, notorische Geisteskranke, plapperten noch irgend etwas daher von einem großen Fest auf der Place du Cours, dessentwegen sie hätten ihre Zimmer räumen müssen.

Und bald hatte sich das Leben gänzlich normalisiert. Die Leute arbeiteten fleißig und schliefen gut und gingen ihren Geschäften nach und hielten sich rechtschaffen. Das Wasser sprudelte wie eh und je aus den vielen Quellen und Brunnen und schwemmte den Schlamm durch die Gassen. Die Stadt stand wieder schäbig und stolz an den Hängen über dem fruchtbaren Becken. Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen.

VIERTER TEIL

51

Grenouille ging nachts. Wie zu Beginn seiner Reise wich er den Städten aus, mied die Straßen, legte sich bei Tagesanbruch schlafen, stand abends auf und ging weiter. Er fraß, was er am Wege fand: Gräser, Pilze, Blüten, tote Vögel, Würmer. Er durchzog die Provence, überquerte in einem gestohlenen Kahn die Rhone südlich von Orange, folgte dem Lauf der Ardèche bis tief in die Cevennen hinein und dann dem Allier nach Norden.

In der Auvergne kam er dem Plomb du Cantal nahe. Er sah ihn westlich liegen, groß und silbergrau im Mondlicht, und er roch den kühlen Wind, der von ihm kam. Aber es verlangte ihn nicht hinzugehen. Er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Höhlenleben. Diese Erfahrung war ja schon gemacht und hatte sich als unlebbar erwiesen. Ebenso wie die andere Erfahrung, die des Lebens unter den Menschen. Man erstickte da und dort. Er wollte überhaupt nicht mehr leben. Er wollte nach Paris gehen und sterben. Das wollte er.

Von Zeit zu Zeit griff er in seine Tasche und schloss die Hand um den kleinen gläsernen Flakon mit seinem Parfum. Das Fläschchen war noch fast voll. Für den Auftritt in Grasse hatte er bloß einen Tropfen verbraucht. Der Rest würde genügen, um die ganze Welt zu bezaubern. Wenn er wollte, könnte er sich in Paris nicht nur von Zehn-, sondern von Hunderttausenden umjubeln lassen; oder nach Versailles spazieren, um sich vom König die Füße küssen zu lassen; dem Papst einen parfumierten Brief schreiben und sich als der neue Messias offenbaren; in Notre-Dame vor Königen und Kaisern sich selbst zum Oberkaiser salben, ja sogar zum Gott auf Erden – falls man sich als Gott überhaupt noch salbte…

All das könnte er tun, wenn er nur wollte. Er besaß die Macht dazu. Er hielt sie in der Hand. Eine Macht, die stärker war als die Macht des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes: die unüberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflößen. Nur eines konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selber riechen machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein Gott – wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals wüsste, wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein Parfum.

Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn er sie an seine Nase führte und schnupperte, dann wurde ihm wehmütig, und für ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb stehen und roch. Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist, dachte er. Niemand weiß, wie gut es gemacht ist. Die andern sind nur seiner Wirkung untertan, ja, sie wissen nicht einmal, dass es ein Parfum ist, das auf sie wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen Schönheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der einzige, für den es sinnlos ist.

Und ein andermal, da war er schon in Burgund: Als ich an der Mauer stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige Mädchen spielte, und ihr Duft zu mir herüberwehte… oder vielmehr das Versprechen ihres Dufts, denn ihr späterer Duft existierte ja noch gar nicht – vielleicht war das, was ich damals empfand, demjenigen ähnlich, was die Menschen auf dem Cours empfanden, als ich sie mit meinem Parfum überschwemmte…? Aber dann verwarf er den Gedanken: Nein, es war etwas anderes. Denn ich wusste ja, dass ich den Duft begehrte, nicht das Mädchen. Die Menschen aber glaubten, sie begehrten mich, und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis.

Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine Stärke, und er war auch schon im Orleanais.

Er überquerte die Loire bei Sully. Einen Tag später hatte er den Duft von Paris in der Nase. Am 25. Juni 1767 betrat er die Stadt durch die Rue Saint-Jacques frühmorgens um sechs.

Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem Jahr. Die tausendfältigen Gerüche und Gestänke quollen wie aus tausend aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gemüse an den Marktständen erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluss schien nicht mehr zu fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag von Grenouilles Geburt.

Er ging über den Pont Neuf ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen und zum Cimetiere des Innocents. In den Arkaden der Gebeinhäuser längs der Rue aux Fers ließ er sich nieder. Das Gelände des Friedhofs lag wie ein zerbombtes Schlachtfeld vor ihm, zerwühlt, zerfurcht, von Gräben durchzogen, von Schädeln und Gebeinen übersät, ohne Baum, Strauch oder Grashalm, eine Schutthalde des Todes.

Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so schwer, dass selbst die Totengräber sich verzogen hatten. Sie kamen erst nach Sonnenuntergang wieder, um bei Fackellicht bis in die Nacht hinein Gruben für die Toten des nächsten Tages auszuheben.