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Ganz im Gegenteil.

*

»Langsamer!« rief Jacob Adler den Männern oben zu. »Und vorsichtig!«

Er hatte Andrew Zachary fast erreicht. Nur noch etwa vier Fuß trennten ihn von dem krüppeligen Strauchgewächs, das fast waagrecht aus der Steilwand wuchs und sich bestimmt nicht hatte träumen lassen, einmal der Lebensretter eines Menschen zu werden.

Falls Jacobs Rettungsaktion gelang!

Wenn Jacob nicht achtgab und den Jungen unglücklich mit seinen Stiefeln traf, schleuderte er ihn in die tödliche Tiefe, statt ihn zu retten.

Jetzt, wo ihn die Männer oben langsamer herabließen, suchte Jacob mit den Füßen festen Halt an der Steilwand. Er wollte sicherstellen, daß er neben Andrew anlangte und nicht genau auf dem Jungen. Jede winzige Unebenheit ausnutzend, setzte Jacob die Füße Schritt für Schritt tiefer, gewann dabei manchmal nur einen oder zwei Zoll.

Sicherheit ging vor, auch wenn die Zeit drängte. Der junge Zimmermann konnte sehen, wie der Strauch durch Andrews Gewicht immer weiter aus der Wand gezogen wurde. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wurzeln jeglichen Halt verloren und der Strauch in die Tiefe segelte, die Steilwand gänzlich karg und öde zurücklassend.

Jetzt ging es nur noch um eins: Ob Andrew mit dem Gewächs in die Tiefe stürzte, oder ob Jacob die waghalsige Rettung gelang.

»Mr. Adler, passen Sie auf!« rief ihm der Junge zu.

Unter Jacobs Stiefeln hatte sich Geröll gelöst und war auf Andrew gefallen, dessen Gesicht nun graubraun war vor Schmutz. Wenn Jacob nicht vorsichtig war, trat er auf dem letzten, winzigen Stück, daß ihn noch von Andrew trennte, eine Lawine los, die dem Jungen zum Verhängnis wurde.

Schweiß perlte auf Jacobs Stirn und in seinem Gesicht, lief in kleinen Bächen an seinen Wangen entlang und rieselte in seinen Hemdkragen, als er krampfhaft nach einem neuen, sicheren Tritt für seine Füße suchte.

Endlich gelang es ihm, dicht neben Andrew auf gleiche Höhe zu kommen.

»Laßt das zweite Seil herab!« rief der Deutsche nach oben.

Er hatte kaum ausgesprochen, als das Ende des zweiten Seils auch schon dicht neben Jacobs Gesicht gegen die Wand klatschte.

Der Junge sah ihn ängstlich an.

»Was haben Sie vor, Mr. Adler?«

»Ich werde dir das zweite Seil umbinden, Andrew. Dann ziehen dich die anderen hinauf.«

Jacob ergriff das lose herunterhängende Seilende und begann damit, es um Andrews Brust zu binden. Er mußte sehr vorsichtig vorgehen. Die kleinste Belastung des Strauches konnte dazu führen, daß das Wurzelwerk den letzten Widerstand aufgab.

Vielleicht war er nicht vorsichtig genug. Vielleicht war die Geduld der verkrüppelten Pflanze erschöpft. Jedenfalls löste sie sich von der Felswand, noch ehe Jacob den rettenden Knoten unter Andrews Achsel festziehen konnte.

Ein gellender Schrei kam tief aus Andrews Kehle, und der Junge rutschte zwischen Jacobs Armen hindurch.

Jacob erwischte ihn im letzten Augenblick am Kragen und dann an den Schultern.

Fast wären beide abgestürzt, als Jacobs Halteseil ein Stück nach unten sackte. Die Männer oben waren von dem plötzlichen Mehrgewicht überrascht worden.

Jacob konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sich Andrew gefühlt haben mußte, als er mit erlahmenden Kräften an dem Strauch hing, der jetzt tief unter ihnen zwischen hochaufragenden Felsnadeln verschwand. Andrews Gewicht zerrte an den Muskeln des kräftigen, muskulösen Deutschen.

Er versuchte, den großen schweren Burschen weiter zu sich heraufzuziehen, um ihn in einen besseren Griff zu bekommen. Aber es gelang nicht.

»Raufziehen!« stieß Jacob unter lautem Stöhnen hervor. »Zieht uns endlich rauf, Herrgott!«

Die Männer oben hatten sich von ihrer Überraschung erholt und befolgten Jacobs Befehl. Stück für Stück zogen sie das Seil nach oben.

Martin, der ganz vorn stand, beäugte skeptisch das Seilstück, das über die scharfe Felskante schabte. Unter dem starken Gesicht begann es zu zerfasern. Aber er konnte nichts dagegen tun. Sie mußten das Seil so schnell wie möglich heraufziehen, bevor Jacobs Kräfte erlahmten und er den Jungen in die Tiefe fallen ließ.

Als Jacob und Andrew die Hälfte der Strecke überwunden hatten und nur noch zwanzig Yards von den Leuten des Trecks entfernt waren, gönnten sich die erschöpften Männer oben eine kurze Pause. Ein paar Sekunden nur, um Atem zu holen. Dann ging es weiter. Noch fünfzehn Yards. ... zwölf. . zehn. . acht. . fünf. . drei.

. und dann griffen endlich kräftige Hände nach Jacob und Andrew, nahmen dem Deutschen seine Last ab und zogen Andrew zuerst aufs felsige Plateau. Jacob folgte ihm.

*

Völlig ausgepumpt lagen die beiden jungen Männer dort nebeneinander auf dem Rücken, sahen nach oben in den blauen Himmel und holten Atem in tiefen, schnellen Zügen, als gälte es, soviel Leben wie möglich in sich aufzunehmen.

Immer wieder strichen Andrews Hände über den glatten Felsen unter sich. Noch nie war ihm der Gedanke, festen Boden unter sich zu haben, so beglückend erschienen.

Ja, er hatte festen Boden unter sich. Und er lebte. Alles war gut.

Wirklich alles?

Sein Bruder Aaron beugte sich besorgt und erleichtert zugleich über ihn.

Aber weshalb nur er?

Wo waren Vater und die Schwestern?

Die Einzelheiten des Unfalls kehrten in Andrews Erinnerung zurück und verdichteten sich zu einem schlimmen Verdacht, der ihm fast die Kehle zuschnürte. Der Wagen war zurückgerollt, als Andrew in den Abgrund gefallen war, und sein Vater hatte auf dem Bock gesessen!

Nur unter Aufbietung aller Kräfte brachte er es fertig, Aaron nach ihrem Vater zu fragen.

Der ältere Bruder sah ihn betreten an und schaute dann hinüber zu dem umgeknickten Conestoga, um den sich eine große Menschenschar versammelt hatte. Er konnte weder seinen Vater sehen noch seine Schwestern.

»Was ist mit Vater?« hakte Andrew nach. »Ist. ist ihm etwas zugestoßen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Aaron leise und lag damit noch nicht einmal so falsch, wußte er doch wirklich nicht, ob Abner Zachary noch am Leben war.

In diesem Augenblick bildete sich eine Gasse in der Menge, durch die Beulah, Abner Zacharys älteste Tochter, auf die Männer am Abgrund zugelaufen kam. Ihr Gesichtsausdruck ähnelte dem von Aaron, drückte Erleichterung und Besorgnis zugleich aus.

Erleichterung über Andrews Rettung.

Und Besorgnis über - den Tod ihres Vaters?

»Vater.«, begann die junge Frau, konnte aber nicht zu Ende sprechen.

Andrew, der noch immer am Boden lag, fiel ihr ins Wort und fragte erregt: »Was ist mit ihm?«

»Er will euch sehen, Andrew, dich und Aaron.« Ihr Blick wanderte zu Jacob. »Sie auch, Mr. Adler.«

Jacob und Martin erhoben sich, um Beulah und Aaron zu dem Conestoga zu folgen. Die anderen Männer schlossen sich an.

Man hatte Abner Zachary soweit aufgerichtet, daß er mit der Schulter an seinem Wagen lehnte. Seine beiden anderen Töchter, Berenice und Bethenia, stützten ihn und kümmerten sich um ihn. Bethenia, Tränen in den Augen, tupfte seine Stirn unablässig mit einem feuchten Tuch ab.

Das abgebrochene Stück der Wagendeichsel steckte noch immer in seinem Oberkörper. Das einstmals weiße Hemd unter der schwarzen Jacke war jetzt dunkelrot. Es war unverkennbar, daß es mit dem Prediger zu Ende ging.

Als er Jacob und seine Söhne sah, leuchtete es unter den buschigen Brauen auf. Er hob die rechte Hand, wie um die jungen Männer zu sich heranzuwinken. Aber es wurde nur ein kraftloses Zucken seiner Finger daraus.

Jacob, Aaron und Andrew verstanden ihn auch so und ließen sich dicht neben dem Prediger nieder.

Abner Zacharys Blick ruhte lange auf seinem jüngsten Sohn, dann auf Aaron und Jacob.