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Jacob deutete auf den nahen Abgrund und knurrte im Tonfall eines gespielten Vorwurfs: »Hättest du mich ein bißchen mehr erschreckt, könntet ihr euch schon wieder einen neuen Captain suchen!«

Der stämmige, kräftige Sohn eines Heidebauern hob abwehrend die Hände. »Gott bewahre! Einen besseren Mann als dich werden wir kaum finden.«

»Das muß sich erst noch herausstellen.«

Jeglicher Unernst war aus Jacobs Stimme verschwunden. Sein Tonfall und sein Gesicht drückten tiefe Besorgnis aus.

»Was bedrückt dich?« fragte Martin.

»So einiges. Die Frage, ob ich der richtige Mann für diesen Posten bin. Die Frage, wer für Abner Zacharys Tod verantwortlich ist. Und die Frage, ob dieser Unbekannte - mag er ein Bärenmensch, ein Phantom oder ein Mann wie du und ich sein - noch mehr Menschen in den Tod treiben wird.«

»Wir sind jetzt gewarnt. Noch einmal wird uns so was nicht passieren.«

»Gebe Gott, daß du recht hast, Martin«, sagte der frischgebackene Treck-Captain mit einem langen Seufzen.

Tief in sich drin spürte Jacob, daß er nicht davon überzeugt war.

*

Trotz Jacobs düsterer Ahnungen verlief die Nacht ohne Zwischenfälle.

Sobald die Sonne aufging, begaben sich Sam Kelley und seine Gehilfen wieder an die Arbeit, um den Conestoga der Zacharys vollends fahrbereit zu machen.

Ein Teil der Frauen ging nach dem Frühstück zu einem Wildbach, den Billy Calhoun eine halbe Meile vom Lager entfernt entdeckt hatte, um Staub und Schmutz aus der Wäsche ihrer Familien zu schrubben.

Auch Urilla Andersen trug einen großen Wäschekorb dorthin. Zwar hatte sie keine Angehörigen - nicht hier beim Treck -, aber es war ihr ein Bedürfnis, etwas für Jacob, Martin und Irene zu tun, die Urilla wie eine gute Freundin aufgenommen hatten.

Ursprünglich hatte Irene die Wäsche erledigen wollen, aber ihr kleiner Sohn war sehr quengelig an diesem Morgen. Als Irene ihn genau untersuchte, stellte sie leichtes Fieber bei ihm fest. Urilla sagte ihr, sie solle bei Jamie bleiben.

Der sprudelnde, glucksende Creek mit dem kristallklaren, eiskalten Schmelzwasser kam von den schneebedeckten Berggipfeln herunter und schlängelte sich in willkürlich anmutenden Windungen durch eine langgestreckte, bewaldete Senke, die durch einen Hügelkamm vom Lager des Trecks getrennt wurde.

Urilla blieb kurz vor dem Gewässer stehen, setzte den Korb ab, sog die frische, nach Kälte und Schnee riechende Morgenluft tief in ihre Lungen und betrachtete die malerische Landschaft der von Menschenhand unberührten Natur.

Welch ein Unterschied zu dem lauten, überfüllten Kansas City und dem allabendlichen Trubel im Lightheart Palace, wo sie ihr Geld damit verdient hatte, schmutzige, verschwitzte Männer zum Trinken und Tanzen zu verführen.

Und welch ein Unterschied zu der schäbigen, windschiefen Hütte, die ihre Familie in Rock Bridge bewohnt hatte. Der karge Lohn, den ihr Vater als Bürstenmacher nach Hause gebracht hatte, war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel gewesen.

Der Gedanke an ihren Vater holte sie in die Wirklichkeit zurück. Seinetwegen war sie hier. Er war alles, was ihr geblieben war.

Sie trug den Wäschekorb zum Creek und begann mit ihrer Arbeit, ein Stück entfernt von den anderen Frauen. Sie wußte aus Kansas City, daß ein Animiermädchen von den sogenannten ehrbaren Frauen argwöhnisch betrachtet wurde. Wenn ihr auch beim Treck niemand mit offener Feindseligkeit entgegengetreten war, waren ihr die mißtrauischen bis verächtlichen Blicke nicht entgangen, die ihr viele Frauen zugeworfen hatten. Nur wenige - wie Irene - behandelten Urilla als eine der ihren. Deshalb war sie höflich zu den Leuten, wahrte aber Distanz zu ihnen.

Als Urilla die Ärmel ihres blauweiß gestreiften Alpakawollkleids hochgekrempelt hatte und die Arme mit der Wäsche in den Creek tauchte, stach das eisige Wasser wie tausend kleine Nadeln. Sie gewöhnte sich schnell daran und empfand es bald sogar als erfrischend.

Ihre Arbeit machte ihr Spaß. Urilla freute sich, etwas für die deutschen Auswanderer, mit denen sie reiste, tun zu können. Sie vertiefte sich so in die Wäsche, daß sie die Gestalten, die sich ihr zögernd näherten, erst bemerkte, als deren Schatten über Urilla fielen und das Wasser die versteinerten Gesichter der Frauen widerspiegelte.

Sie bildeten einen Halbkreis um Urilla, nahmen die am Wasser hockende Frau zwischen sich und dem Creek gefangen. Als sich Urilla umdrehte und erhob, erkannte sie schnell, daß sie von den anderen nichts Gutes zu erwarten hatte. Deren Mienen hellten sich bei ihrem Anblick kein bißchen auf, wurden im Gegenteil fast noch finsterer.

Urilla kannte diesen Blick aus Kansas City. So hatten Bürgerfrauen sie angeschaut, wenn sie ihnen beim Einkaufen und Spazierengehen begegnet war. Verachtung lag dabei in ihren Augen, Mißtrauen und Furcht. Furcht vor dem, was Frauen wie Urilla - zumindest in der Vorstellung der »ehrbaren Damen« - ihren Männern zu geben vermochten, zu dem sich diese Frauen nicht in der Lage fühlten.

Aber jetzt las Urilla noch etwas anderes in den Gesichtern der fünf Frauen: Haß!

Zwei der Frauen hatten fast so rotes Haar wie Urilla, aber ungleich gröbere Gesichter, die sich mit Urillas hübschen Zügen nicht vergleichen ließen. Es waren Sarah und Margareteen, die Frauen der irischen Brüder Patrick und Liam O'Rourke.

Neben ihnen standen zwei jüngere Frauen, blaß und grobknochig, ihren fast gleichen, hohlwangigen Gesichtern nach unverkennbar Schwestern: Beulah und Berenice, die beiden älteren Töchter Abner Zacharys. Als Zeichen ihrer Trauer trugen sie schwarze Satinkleider und schwarze Hauben mit kurzem Nackenschleier. Die identische Kleidung ließ die Schwestern einander noch ähnlicher wirken.

Auch die fünfte Frau war in Trauer, wie ihr abgetragenes, mehrmals geflicktes schwarzes Flanellkleid zeigte. Es war eine kleine schmächtige Frau, der man kaum zutraute, daß sie sechs Kinder zur Welt gebracht und vier von ihnen großgezogen hatte; die beiden anderen waren dem Säuglingstod erlegen. Ruth Cartland, deren Mann Elmer in den Fluten des Big Blue gestorben war, zählte sechsundvierzig Jahre, aber ihr faltiges, verhärmtes Gesicht ließ sie fünfzehn Jahre älter aussehen.

Urilla fragte sich unwillkürlich in Gedanken, ob es das war, was dieses rauhe Land aus einem Menschen machte.

Laut fragte sie die anderen Frauen, was sie von ihr wollten.

»Wir wollen, daß du verschwindest, Hexe!« fuhr Sarah O'Rourke sie an und machte einen Schritt nach vorn. Noch einen halben Schritt weiter, und sie würde mit Urilla zusammenprallen.

»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Urilla wahrheitsgemäß. »Wohin soll ich verschwinden?«

»Egal, wohin«, blies die Irin ihren faulig riechenden Atem in Urillas Gesicht. »Hauptsache, du verläßt den Treck!«

Urilla starrte ungläubig in Sarahs gerötetes, grobporiges, aufgedunsenes Gesicht und dann in die Gesichter der anderen Frauen. Darin las sie Ablehnung ihr gegenüber und Zustimmung, was Sarahs Worte betraf.

»Ich soll den Treck verlassen, hier, mitten in der Wildnis?«

»Ja«, antwortete Sarah knapp und hart, in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Aber Urilla war nicht die Frau, die so einfach aufgab. Sie hatte gelernt - lernen müssen -, sich durchzubeißen.

»Warum?« fragte sie. »Was habe ich euch getan?«

»Du hast Unglück über den Treck gebracht!«

Sarahs Antwort fand bei den anderen Frauen beifällige Blicke und zustimmendes Gemurmel.

»Seit du beim Treck bist, ist alles schiefgegangen«, fuhr die Irin fort, die sich immer mehr in Rage redete. »Erst die Büffelstampede, bei der Ben Miller fast gestorben wäre. Dann das wochenlange Unwetter, das wie aus heiterem Himmel gekommen ist. Der Überfall durch diese Banditen, der neun gute Menschen das Leben gekostet hat.«

Sarah sah die schmächtige Witwe an ihrer Seite an.

»Auch Elmer Cartland mußte sterben. Nur, weil dein mieser Freund Clayton das gestohlene Geld bei sich hatte, auf das die Banditen scharf waren.«