»Lassen Sie uns hineingehen«, brummte Vaughn. »Mir dröhnt ja jetzt schon der Schädel. Ich will endlich konkrete Zeugenaussagen!«
Im Salon der Kolonialvilla erwartete die Männer ein trauerumflortes Häuflein. Die drei Menschen, die sich mühsam erhoben, als Ellery und die Männer den Raum betraten, hatten gerötete Augen, verhärmte Gesichter und waren so nervös, daß ihre Bewegungen aus kontinuierlichen Zuckungen bestanden.
»Ah -kommen Sie herein«, sagte der Mann mit heiserer, gebrochener Stimme. »Wir haben auf Sie gewartet.« Er war groß, schlank und zugleich kräftig und mochte etwa Mitte Dreißig sein. Ein Neuengländer, seinen kantigen Gesichtszügen und dem leichten Näseln nach zu schließen.
»Guten Tag«, sagte Isham bedrückt. »Mrs. Brad, darf ich vorstellen, Ellery Queen, der eigens aus New York gekommen ist, um uns zu assistieren.«
Ellery murmelte die üblichen Kondolenzformeln, ohne daß sie sich die Hand gaben. Margaret Brad bewegte sich, als irre sie durch die Schrecken eines Alptraums. Sie war eine Frau von fünfundvierzig, hatte sich jedoch gut gehalten und konnte mit ihren festen Rundungen durchaus als gereifte Schönheit gelten. Mit unbewegten Lippen antwortete sie: »Ich danke Ihnen ... daß Sie da sind, Mr. Queen. Ich -« Ohne den Satz zu vollenden, wandte sie den Kopf, als hätte sie bereits vergessen, was sie sagen wollte, und setzte sich hin.
»Und das ist die -Mr. Brads Stieftochter«, fuhr der Staatsanwalt fort. »Miss Brad - Mr. Queen.«
Helene Brad schenkte Ellery ein bitteres Lächeln, nickte Professor Yardley zu und gesellte sich schweigend zu ihrer Mutter. Sie war ein junges Mädchen mit klugen, recht schönen Augen, leicht rötlichem Haar und offenen Gesichtszügen.
»Nun?« fragte Lincoln. Seine Stimme hatte sich immer noch nicht gefestigt.
»Wir kommen voran«, murmelte Vaughn. »Mr. Queen -Mr. Lincoln ... Mr. Queen muß noch über einiges ins Bild gesetzt werden, und mit unserer Unterhaltung vorhin waren wir auch noch nicht fertig.« Sie nickten ernst, als spielten sie in einem Drama mit. »Wollen Sie das selbst in die Hand nehmen, Mr. Queen? Legen Sie los!«
»O nein«, antwortete Ellery, »ich melde mich schon zu Wort. wenn ich etwas zu sagen habe. Tun Sie so, als wäre ich gar nicht da.«
Inspector Vaughn stand groß und beherrschend neben dem
Kamin, hatte die Hände hinter dem Rücken und fixierte mit seinen Augen Lincoln. Isham setzte sich hin und wischte sich über die kahle Fläche auf seinem Kopf. Der Professor seufzte, ging leise zu einem der Fenster und schaute auf den Vorgarten und die Einfahrt hinunter. Im Haus war es so still wie nach einem lauten Fest -oder einer Beerdigung. Keine Geschäftigkeit, kein Weinen, keine Hysterie. Außer Mrs. Brad, ihrer Tochter und Jonah Lincoln war kein anderer Angehöriger des Haushalts - das Personal etwa - erschienen.
»Nun, zunächst einmal«, begann Isham müde, »müssen wir die Sache mit den Theaterkarten von gestern Abend klären, Mr. Lincoln. Wenn Sie bitte so freundlich wären, uns die Geschichte von Anfang an zu erzählen!«
»Ach ja ... die Theaterkarten.« Lincoln starrte derart glasig die Wand über Ishams Kopf hinweg an, daß man meinen konnte, einen Soldaten mit akuter Kriegsneurose vor sich zu haben. »Gestern hat Tom Brad von seinem Büro aus Mrs. Brad angerufen und ihr mitgeteilt. daß er Karten für ein Broadwaystück für sie, Helene und mich erstanden habe und ich die Damen in der Stadt treffen solle. Er selbst werde nach Hause fahren. Dasselbe trug er mir persönlich ein paar Minuten später auf. Es schien ihm viel daran zu liegen, daß ich die Damen ausführte. Ich konnte nicht ablehnen.«
»Hätte es denn einen Grund gegeben?« fragte der Inspector zurück.
Lincoln verzog keine Miene. »Es war untypisch für ihn, zu diesem Zeitpunkt einen solchen Auftrag zu erteilen. Es hatte Ärger im Büro gegeben, weil mit der Buchführung etwas nicht stimmte; und ich wollte eigentlich länger bleiben, um die Sache mit unserem Buchprüfer durchzugehen. Ich habe Tom noch daran erinnert, aber er sagte nur, ich solle mir darüber keine Gedanken machen.«
»Und das verstehe ich einfach nicht«, fügte Mrs. Brad tonlos hinzu, »als hätte er uns loswerden wollen.« Plötzlich begann sie zu zittern, woraufhin Helene ihr beruhigend auf die Schulter klopfte.
»Mrs. Brad, Helene und ich haben dann im Longchamps zu Abend gegessen«, fuhr Lincoln angespannt fort. »Danach sind wir dann zum Theater -«
»Zu welchem?« fragte Isham.
»Zum Park-Theater, wo ich die Damen dann allein gelassen habe -«
»Oho!« warf der Inspector dazwischen. »Wollten also doch noch ein bißchen fleißig sein, was?«
»Ganz recht. Ich habe mich von den Damen verabschiedet und ihnen versprochen, sie nach der Vorstellung abzuholen, und bin zum Büro zurück.«
»Wo Sie mit Ihrem Buchprüfer gearbeitet haben, Mr. Lincoln?« fragte Vaughn sanft.
Lincoln starrte ihn an. »Ja ... mein Gott!« Plötzlich warf er den Kopf zurück und schnappte wie ein Ertrinkender nach Luft. Niemand sagte etwas. Dann sprach er ruhig weiter, als sei nichts geschehen. »Ich habe bis zum späten Abend gearbeitet und bin dann zum Theater zu-«
»Ist der Buchprüfer auch so lange geblieben?« fragte der Inspector im selben verhaltenen Ton.
Lincoln fuhr zusammen. »Nein, warum?« Er schüttelte benommen den Kopf. »Wie meinen Sie das? -Nein, er ist um acht herum gegangen. Ich habe allein weitergearbeitet.«
Der Inspector räusperte sich; seine Augen funkelten gefährlich. »Wann haben Sie die Damen vom Theater abgeholt?«
»Um viertel vor zwölf«, entgegnete Helene Brad unvermittelt. Sie klang ruhig und gefaßt. Dennoch sah ihre Mutter sie scharf an.
»Lieber Inspector Vaughn, ich finde Ihre Verhörmethoden
ungeheuerlich! Sie schwärzen hier einfach so Jonah an und versuchen, ihn als Lügner -und weiß der Himmel, was sonst noch - hinzustellen.«
»Die Wahrheit hat noch keinem geschadet«, gab Vaughn kühl zurück. »Fahren Sie fort, Mr. Lincoln.«
»Mrs. Brad und Helene warteten bereits im Foyer auf mich. Wir sind dann nach Hause -«
»Mit dem Wagen?«
»Nein, mit der Long-Island-Bahn. Als wir aus dem Zug stiegen, war Fox nicht mit dem Wagen zur Stelle. Wir sind dann mit dem Taxi nach Hause gefahren.«
»Mit dem Taxi?« murmelte Vaughn. Er stand eine Weile nachdenklich da und verließ dann ohne ein Wort den Raum. Die Frauen des Hauses und Lincoln starrten ihm ängstlich nach.
»Weiter«, drängte Isham, »ist Ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie nach Hause kamen? Stimmte etwas nicht? Wie spät war es?«
»Genau kann ich das nicht mehr sagen. Um eins herum, nehme ich an.« Lincoln ließ die Schultern hängen.
»Es war schon nach eins, Jonah«, sagte Helene. »Du erinnerst dich nur nicht mehr genau.«
»Ja. Aber alles schien in Ordnung. Der Pfad zum Gartenhaus -« Lincoln zitterte. »Wir haben einfach keinen Anlaß gehabt, dort nachzusehen. War bei der Stockfinsternis ohnehin nichts zu erkennen. Wir sind einfach zu Bett gegangen.«
Inspector Vaughn kam leise wieder herein.
»Mrs. Brad, wie konnte Ihnen eigentlich entgehen«, fragte Isham, »daß Ihr Mann nicht in seinem Bett geschlafen hat, wie Sie vorhin gesagt haben?«
»Wir schlafen -schliefen in angrenzenden Zimmern«, erwiderte sie mit blutleeren Lippen. »Ich hätte also gar nichts bemerken können, wie Sie sehen. Helene und ich sind auf unsere Zimmer gegangen ... Erst als Fox uns heute morgen
weckte, haben wir erfahren, was - was mit Thomas passiert ist.«
Inspector Vaughn machte ein paar Schritte und beugte sich vor, um Isham etwas ins Ohr zu flüstern. Der Staatsanwalt nickte geistesabwesend.