»Vergessen Sie für den Augenblick mal die Kreuzigung und all das«, fügte der Staatsanwalt hinzu. »Wer hatte ein Mordmotiv?«
Mutter und Tochter sahen einander tief in die Augen und
wandten sich aber fast auf der Stelle wieder voneinander ab. Lincoln starrte weiter stur auf den Orientteppich herab -ein erlesenes Stück. Wenn man die Lebensbaumornamentik dieses Prachtstücks betrachtete, so ergab sich, wie Ellery fand, angesichts des ermordeten Besitzers ein unglücklicher Kontrast zwischen Symbol und Realität
»Nein«, sagte Mrs. Brad, »Thomas war ein glücklicher Mensch. Er hatte keine Feinde.«
»Zählen gelegentlich nahezu Fremde zu Ihren Gästen?«
»Nein, nie. Wir haben hier sehr abgeschieden gelebt, Mr. Isham.« Wieder schwang in ihrer Stimme etwas mit, was bei den anderen scharfe Blicke provozierte.
Ellery stöhnte. »Erinnert sich jemand von Ihnen zufällig an die Anwesenheit eines hinkenden Mannes - als Gast zum Beispiel?«
Sie schüttelten - wie auf Befehl -gleichzeitig die Köpfe. »Mr. Brad kannte niemanden, der hinkte?« Wieder einträchtiges Kopfschütteln.
Mrs. Brad wiederholte dumpf: »Thomas hatte keine Feinde«, als sei es ihr wichtig, diesen Umstand besonders zu betonen.
»Du vergißt da etwas, Margaret«, wandte Lincoln ein. »Romaine.«
Er sah Mrs. Brad durchdringend an. Helene warf Lincoln einen Blick voller Schrecken und Mißbilligung zu; sie biß sich auf die Lippen, und Tränen traten in ihre Augen. Die vier Männer folgten dem Geschehen mit wachsendem Interesse und der Gewißheit, daß in den Zwischentönen Ungutes lauerte, etwas Schwärendes, das den Familienverband befallen hatte.
»Ja, Romaine«, sagte Mrs. Brad, indem sie ihre Lippen befeuchtete; ihre Körperhaltung war seit zehn Minuten wie festgefroren. »Das hatte ich ganz vergessen. Da gab es einen Streit.«
»Wer zum Teufel ist Romaine?« fragte Vaughn.
Lincoln erwiderte mit leiser Stimme: »Paul Romaine. Haracht, der Verrückte von Oyster Island, bezeichnet ihn als seinen ›Ersten Jünger‹.«
»Ah!« sagte Ellery und schaute Yardley an. Der Professor zog vielsagend die Schultern hoch und grinste.
»Sie haben einen Haufen Nudisten um sich geschart. Nudisten!« rief Lincoln verbittert aus. »Haracht ist ein harmloser Spinner und meint es wahrscheinlich ernst; aber dieser Romaine ist ein Scharlatan, die übelste Sorte von Hochstapler. Er blendet durch seinen Körper, der nichts ist als die Maske einer verderbten Seele!«
»Und doch«, murmelte Ellery, »hat Oliver Wendelt Holmes empfohlen: ›Leg dir ein schön‘res Äuß’res, meine Seele, zu!‹«
»Sicher«, sagte Inspector Vaughn, der bemüht war, seinen aufgebrachten Zeugen zu beschwichtigen. »Verstehe. Aber wie war das mit dem Streit, Mr. Lincoln?«
Das hagere Gesicht begann zu zucken. »Romaine kümmert sich um die ›Gäste‹ auf der Insel; er ist derjenige, der den Laden erst in Schwung bringt. Er hat einen Haufen Idioten an der Angel, die ihn entweder als Götzen verehren oder so verklemmt sind, daß der alleinige Gedanke, nackt herumzurennen ...« Er brach seine Rede abrupt ab. »Entschuldigt bitte, Helene -Margaret. Ich sollte nicht reden. Hester ... Die Anwohner hier lassen sie ja in Ruhe, das muß ich zugeben. Aber Tom und Dr. Temple denken genauso wie ich.«
»Hmm«, brummte der Professor. »Mich hat erst gar keiner gefragt.«
»Dr. Temple?«
»Unser östlicher Nachbar. Man hat sie splitternackt auf der Insel herumtollen sehen -wie die Schweine, und, wissen Sie wir sind anständige Leute hier.« Ah, dachte Ellery, also sprach der Puritaner. »Tom ist der Eigentümer des gesamten Landstreifens, der die Bucht säumt; und er sah es als seine Pflicht an einzuschreiten. So ist er mit Romaine und Haracht aneinandergeraten. Soweit ich weiß, hatte er vor, sie mit rechtlichen Mitteln von der Insel zu vertreiben, und das hat er ihnen auch angedroht.«
Vaughn und Isham tauschten Blicke, bevor sie zu Ellery hinüberschauten. Die Brads, Mutter und Tochter, waren sehr ruhig; nur Lincoln, der eben seinen ganzen angestauten Haß artikuliert hatte, wirkte unsicher und beschämt.
»Nun, damit werden wir uns später befassen«, sagte Vaughn heiter. »Habe ich das richtig verstanden - diesem Dr. Temple gehört das östlich angrenzende Grundstück?«
»Es gehört ihm nicht, er hat es von Thomas gepachtet.« Mrs. Brad schien erleichtert zu sein. »Er lebt schon lange hier, ein Militärarzt im Ruhestand. Er und Thomas waren gute Freunde.«
»Und wer bewohnt das westlich angrenzende Grundstück?«
»Ein britisches Ehepaar namens Lynn - Percy und Elizabeth.«
Helene murmelte: »Ich habe die beiden letzten Herbst in Rom kennengelernt, und wir haben uns gleich sehr gut verstanden. Als die beiden andeuteten, die Staaten besuchen zu wollen, habe ich ihnen vorgeschlagen, mich in mein Heimatland zu begleiten und für die Dauer ihres Aufenthaltes meine Gäste zu sein.«
»Wann genau sind Sie aus Europa zurückgekehrt, Miss Brad?« fragte Ellery.
»Um Thanksgiving herum. Die Überfahrt haben wir zusammen gemacht, uns dann aber in New York getrennt. Sie sind eine Weile herumgereist, um etwas von Land und Leuten zu sehen. Im Januar sind sie dann bei uns angekommen. Sie waren vollkommen begeistert von der Gegend -« Lincoln brummte, und Helene errötete. »O doch, Jonah! Sogar so sehr, daß sie, um unsere Gastfreundschaft nicht zu strapazieren vollkommen unnötig, aber man weiß ja, wie eigensinnig die Briten sein können -darauf bestanden, das Haus im Westen zu mieten, das Vater gehörte. Und seitdem wohnen sie hier.«
»Schön, schön, mit denen werden wir uns auch noch unterhalten«, sagte Isham. »Aber noch einmal zu diesem Dr. Temple. Mrs. Brad, Sie sagten, er und Ihr Mann seien gut miteinander bekannt gewesen. Wahre Freundschaft, hm?«
»In dieser Richtung werden Sie nicht fündig werden, Mr. Isham, falls das eine Anspielung sein sollte. Ich persönlich habe Dr. Temple nie besonders gemocht; aber er ist ein aufrechter Mann, und Thomas, der ein Menschenkenner war, wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Sie haben viele Abende beisammen gesessen und Dame gespielt.«
Professor Yardley stöhnte gelangweilt angesichts der feierlich aufgezählten Tugenden und Laster seiner Nachbarn, wo er selbst doch eine wesentlich tiefgreifendere Analyse hätte bieten können.
»Dame!« rief Inspector Vaughn. »Na endlich! Wer hat noch mit Mr. Brad gespielt -oder war dieser Dr. Temple sein einziger Partner?«
»O nein! Wir haben alle hin und wieder mit ihm gespielt.«
Vaughn wirkte enttäuscht. Professor Yardley rieb sich den schwarzen Lincolnbart. »Ich fürchte, da sind Sie auf dem Holzweg, Inspector. Brad war verteufelt gut und hat jeden, der herkam, genötigt, eine Partie mit ihm zu spielen. Beherrschte jemand die Regeln nicht, so bestand er -mit einer Engelsgeduld allerdings - darauf, sie ihm beizubringen. Ich fürchte«, er lachte, »daß ich der einzige Gast war, der seinen Überredungskünsten widerstanden hat.« Ein ernster Ausdruck überschattete seine Züge, und er verstummte.
»Er war ein Ausnahmespieler«, fügte Mrs. Brad mit einem andeutungsweise stolzen Lächeln hinzu. »Der Landesmeister selbst hat mir das einmal gesagt.«
»Sie gehören also auch dieser Spielerklasse an?« fragte Isham.
»Aber nein, Mr. Isham. Wir hatten den Meister letzte Weihnachten zu Gast, und Thomas und er haben ununterbrochen am Brett gesessen. Wie er mir sagte, stand es ständig unentschieden.«
Ellery sprang auf; sein markantes Gesicht verriet innere Anspannung. »Ich habe den Eindruck, daß wir die guten Leute mit unserer endlosen Fragerei sinnlos schikanieren. Ein paar Fragen noch, und wir werden Sie nicht mehr belästigen, Mrs. Brad. Haben Sie jemals den Namen Velja Krosac gehört?«