»Genau«, stöhnte Isham. »Wir haben im Haus kein anderes Damespiel gefunden. Also stammt der einzelne Stein von diesem Spiel hier.«
»Sieht so aus«, murmelte Ellery. »Interessant, hochinteressant.« Er besah sich die Steine von neuem.
»Ach ja?« bemerkte Isham säuerlich. »In spätestens einer Minute werden Sie anders denken. Ich weiß, was Sie vermuten; doch Sie irren sich. Warten Sie, bis wir Brads Butler hier haben.«
Er ging zur Tür und befahl dem Wachposten: »Holen Sie diesen Stallings noch mal. Den Butler.«
Ellery zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Er ging zum Sekretär hinüber und nahm die Schachtel zur Hand. Isham grinste nur. »Und das auch«, sagte er unvermittelt.
»Die Frage verfolgt mich, seit ich den Raum betreten habe«, bemerkte Ellery unbeirrt. »Warum benutzt ein leidenschaftlicher Spieler, der keine Kosten und Mühen scheut, wenn es darum geht, sich eine so raffinierte Mechanik einbauen zu lassen, billige Holzsteine?«
»Das erfahren Sie in einer Minute. Da ist nichts Geheimnisvolles dabei, das kann ich Ihnen versichern.«
Der Wachhabende öffnete die Tür vom Flur aus und ließ einen großen, hageren Mann mit hohlen Wangen und ausdruckslosen Augen hinein. Er war in schlichtem Schwarz gekleidet und strahlte eine gewisse Unterwürfigkeit aus.
»Stallings«, begann Isham ohne Umschweife. »Ich möchte, daß Sie den Herren gegenüber Ihre Aussagen von heute morgen wiederholen.«
»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte der Butler mit weicher, angenehmer Stimme.
»Erstens: Wie erklären Sie sich die Tatsache, daß Mr. Brad mit diesen billigen Holzsteinen gespielt hat?«
»Die Erklärung ist sehr einfach, Sir, wie ich vorhin schon sagte. Mr. Brad« -Stallings stieß einen Seufzer aus und hob die Augen zur Decke -»war immer nur das Beste gut genug. Diesen Tisch und die Sitze hier hat er eigens für sich anfertigen und die Wand aushöhlen lassen, um ihn dort montieren zu können. Zur gleichen Zeit hat er ein sehr teures Damespiel, kunstvoll geschnitzte Figuren aus Elfenbein, erstanden, die er schon seit Jahren in Gebrauch hatte. Es ist noch nicht lange her, daß Dr. Temple das Spiel so bewundert hat, daß Mr. Brad, wie er mir eines Tages erzählte« -Stallings seufzte wieder -, »ihm eine Überraschung bereiten wollte, indem er ihm ein Duplikat schenkte. Es ist erst zwei Wochen her, daß er seine Figuren zu einem Spezialisten in Brooklyn gebracht hat, um die vierundzwanzig Figuren duplizieren zu lassen. Sie sind immer noch nicht zurück, und er hat sich in der Zwischenzeit mit den billigen Holzsteinen begnügt.«
»Und nun, Stallings«, sagte der Staatsanwalt, »berichten Sie uns, was gestern abend passiert ist.«
»Jawohl, Sir.«
Stallings befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. »Bevor ich mich gestern abend auf den Weg machte, wie Mr. Brad mir aufgetragen hatte -«
»Augenblick«, unterbrach Ellery scharf. »Er hat Ihnen gestern abend aufgetragen, das Haus zu verlassen?«
»Ja, Sir. Als Mr. Brad gestern abend aus der Stadt heimgekommen ist, hat er Fox, Mrs. Baxter und mich hierher gerufen.« Stallings mußte, von Erinnerungen überwältigt, schlucken. »Mrs. Brad und Helene waren schon fort -zum Theater, soweit ich mich entsinne. Mr. Lincoln hatte sowieso nicht vor, zum Abendessen nach Hause zu kommen ... Mr. Brad wirkte sehr erschöpft. Er steckte mir zehn Dollar zu und gab Fox, Mrs. Baxter und mir für nach dem Abendessen frei. Er wolle den Abend allein verbringen. Fox könne den kleinen Wagen nehmen. So sind wir dann gefahren.«
»Verstehe«, sagte Ellery leise.
»Und jetzt die Geschichte mit dem Damespiel, Stallings!« soufflierte Isham.
Stallings nickte mit seinem länglichen Kopf. »Bevor ich also das Haus verließ -Fox und Mrs. Baxter warteten bereits im Wagen in der Einfahrt auf mich -bin ich noch einmal in die Bibliothek zurück, um nachzufragen, ob noch etwas zu erledigen wäre, bevor wir losführen. Aber er beharrte auf seinem Nein und befahl mir -sehr nervös, wie mir schien -mit den anderen loszufahren.«
»Sie sind ein guter Beobachter!« sagte Ellery lächelnd.
Stallings schien geschmeichelt. »Ich versuche mein Bestes, Sir. Nun, wie ich Mr. Isham schon heute morgen erzählt habe, fand ich Mr. Brad am Damebrett vor; er spielte sozusagen gegen sich selbst.«
»Dann hatte er also gar keinen Gegner«, brummte Inspector
Vaughn. »Warum zum Teufel haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«
Der Staatsanwalt breitete hilflos seine Hände auseinander, und Ellery fragte: »Wie genau meinen Sie das, Stallings?«
»Nun, Sir, er hatte sowohl die schwarzen als auch die roten Steine aufgestellt; er spielte also beide Seiten und begann gerade mit der Eröffnung. Zuerst machte er einen Zug auf seiner Seite; dann dachte er eine Weile nach und machte einen Zug auf der anderen Seite. Ich habe allerdings nur zwei Züge mitbekommen.«
»Ah ja«, sagte Ellery mit gespitzten Lippen. »Auf welchem Stuhl saß er denn?«
»In dem hier auf der Seite des Sekretärs. Machte er aber einen roten Zug, stand er auf, setzte sich auf den gegenüberliegenden Stuhl und betrachtete das Brett von der anderen Seite aus, wie es seiner Gewohnheit entsprach.« Stallings machte ein schmatzendes Geräusch. »Mr. Brad war ein sehr guter Spieler, sehr konzentriert. Er hat sehr oft auf diese Weise allein geübt.«
»Das wär‘s denn. Diese ganze Dame-Geschichte gibt nichts her!« Isham stöhnte. »Und jetzt zu Ihnen, Stallings.«
»Jawohl, Sir«, antwortete der Butler. »Wir sind also alle in die Stadt gefahren. Fox hat Mrs. Baxter und mich am Roxy abgesetzt und versprochen, daß er uns nach der Vorführung wieder dort abholen würde. Ich weiß nicht, wo er hingegangen ist.«
»Und ist er dann pünktlich zur Stelle gewesen?« fragte Inspector Vaughn, auf einmal sehr aufmerksam.
»Leider nein, Sir. Wir haben eine halbe Stunde auf ihn gewartet; aber als er dann noch immer nicht kam, haben wir gedacht, er muß einen Unfall gehabt haben oder sonstwie aufgehalten worden sein. So haben wir dann den Zug genommen und sind vom Bahnhof aus mit dem Taxi nach
Hause.«
»Aha, mit dem Taxi.«
Der Inspector wirkte amüsiert. »Da haben die Jungs am Bahnhof gestern ja ganz schön Umsatz gemacht, was? Um wieviel Uhr sind Sie zu Hause angekommen?«
»Um Mitternacht, vielleicht auch ein bißchen später. Genauer kann ich das leider nicht mehr sagen. «
»War Fox zurück, als Sie nach Hause kamen?«
Stallings schien peinlich berührt. »Ich fürchte, das entzieht sich meiner Kenntnis, Sir. Er wohnt in der kleinen Hütte am Ufer der Bucht. Selbst wenn dort Licht gewesen wäre, hätten die Bäume uns die Sicht versperrt.«
»Nun, darum kümmern wir uns noch. Sie haben sich Fox noch nicht vorgenommen, Isham, oder?«
»Hatte noch keine Gelegenheit.«
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Ellery. »Stallings, hat Mr. Brad gestern abend angedeutet, daß er Besuch erwartet?«
»Nein, Sir. Er hat bloß gesagt, er wolle den Abend allein verbringen.«
»Hat er Sie, Fox und Mrs. Baxter oft auf diese Weise abends entlassen?«
»Nein, Sir. Es war das erste Mal.«
»Eines noch.« Ellery ging zu dem runden Lesetisch und klopfte mit den Fingerspitzen auf die große Dose »Wissen Sie, was hier drin ist?«
Stallings wirkte erstaunt. »Aber sicher, Sir! Mr. Brads Tabak.«
»Gut! Ist dies der einzige Vorrat an Pfeifentabak im Haus?«
»Ja, Sir. Mr. Brad war mit seinem Tabak sehr eigen; er hat sich seine Sorte extra in England mischen lassen und von dort importiert. Etwas anderes hat er nie geraucht. Und wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte Stallings in einem Anfall von Vertraulichkeit, »Mr. Brad hat immer darüber geklagt, daß es keinen amerikanischen Tabak gebe, der sein Geld wert sei.«
In Ellery blitzte ein abwegiger Gedanke auf. Andrew Van und sein Kaviar; Thomas Brad und sein importierter Tabak ... Er schüttelte den Kopf.