»Hmm«, brummte Isham. »Haben Sie irgendeine Theorie, wie es zu dem Mord kommen konnte?«
»Bedaure, nein. Wir haben nicht die geringste Ahnung. Kann einem angst und bange von werden. Dieses -ähm unzivilisierte Benehmen entspricht leider ganz dem Bild, das man sich in Europa ohnehin von Ihrem großartigen Land macht.«
»Tja, leider«, sagte Isham trocken. »Ich danke Ihnen ... Kommen Sie.«
8. Oyster Island
Ketcham‘s Cove war wie ein unregelmäßiger Halbkreis aus dem Ufer von Thomas Brads Grundstück herausgebrochen. In der Mitte der halbmondförmigen Bucht schaukelte ein Ponton auf dem Wasser, an dem einige Motorboote und eine Barkasse festgetäut waren. Ellery, der mit den Männern zusammen der Straße in westlicher Richtung bis zum Ufer gefolgt war, stand nun auf einem kleineren Anlegesteg mehrere hundert Meter von
der Hauptanlegestelle entfernt. In wenig mehr als einem Kilometer Entfernung ragte Oyster Island aus dem Wasser. Das Ufer der Insel sah aus, als hätte man sie gewaltsam dem Festland entrissen und als hätte sie sich bei diesem Prozeß ein wenig verformt. Ellery konnte zwar die Rückseite der Insel nicht sehen, aber es war anzunehmen, daß sie ihren Namen ihrer Muschelform verdankte.
Oyster Island hob sich wie ein grünes Juwel vom türkisfarbenen Wasser des Long Island Sound ab. Soweit man aus der Entfernung erkennen konnte, schien sie dicht bewaldet zu sein. Die wilden Bäume und Sträucher reichten beinahe bis ans Wasser heran. Doch nein ... Dort war ein kleiner Anlegesteg auszumachen. Wenn er sich sehr konzentrierte, konnte Ellery seine verwitterten grauen Konturen erkennen. Doch weitere Spuren menschlicher Besiedelung waren nicht zu sehen.
Isham stieg zu Ellery auf den Steg und rief eine Polizeibarkasse herbei, die in mäßigem Tempo zwischen der Insel und dem Festland hin und her tuckerte. Westlich davon sah Ellery das Heck eines weiteren Polizeibootes; es patrouillierte, wie Ellery schloß, an der Rückseite der Insel entlang.
Die Barkasse, der Isham Zeichen gegeben hatte, schoß auf das Festland zu und machte an der Anlegestelle fest.
»Nun, dann mal los!« Vaughn stieg voller Tatendrang ins Boot. »Kommen Sie, Mr. Queen! Gut möglich, daß der Spuk hier bald ein Ende hat!«
Kaum waren Ellery und Isham ins Boot gesprungen, da drehte es in großem Bogen und nahm direkten Kurs auf die große Auster.
Während sie näher kamen, konnten sie die Insel deutlicher erkennen; auch das Festland ließ sich vom Wasser aus besser überblicken. Nicht weit von ihrem Anlegesteg lag, wie sie jetzt sahen, ein weiterer im Westen, den offenbar die Lynns
benutzten. Ein Ruderboot, das dort festgemacht war, blich in der Sonne vor sich hin. Im Osten befand sich in gleicher Entfernung ebenfalls ein Steg.
»Dort wohnt Dr. Temple, nicht wahr?« fragte Ellery.
»Ja. Das muß seine Anlegestelle sein.« Die allerdings war verwaist.
Die Barkasse durchpflügte das Wasser mit hoher Geschwindigkeit. Während sie nun den kleinen Hafen der Insel ansteuerten, ließen sich bereits Einzelheiten erkennen. Sie beobachteten schweigend, wie Oyster Island größer und größer wurde.
Plötzlich sprang Inspector Vaughn auf und brüllte: »Da drüben ist was im Gange!«
Entgeistert starrten sie auf die Anlegestelle. Gerade war ein Mann mit einer Frau auf den Armen, die hilflos zappelte und schwache Schreie ausstieß, aus dem Unterholz gewankt und in einen kleinen Außenborder gesprungen, der, wie nun sichtbar wurde, an der Westseite des baufälligen Stegs festgemacht war. Der Mann setzte die Frau ruppig auf die Sitzbank im Bug, ließ den Motor an, legte ab und steuerte direkt auf die Polizeibarkasse zu. Die Frau war zusammengesackt und gab keinen Laut mehr von sich. Einen Augenblick lang, als der Mann noch einmal zur Insel zurücksah, war sein tiefgebräuntes Gesicht zu erkennen.
Keine zehn Sekunden nach dieser überstürzten Flucht -wenn es überhaupt eine solche gewesen war -sprang ein zweiter Mann aus dem Gebüsch hervor und nahm die Verfolgung auf.
Der Mann war nackt -ein großer, breiter, braungebrannter Kerl mit kräftiger Muskulatur und wehender schwarzer Mähne. Tarzan, dachte Ellery, und er wäre absurderweise kaum erstaunt gewesen, wenn er im Buschwerk auch seinen schwerfälligen berüsselten Begleiter erspäht hätte. Doch wo war nur der Lendenschurz geblieben? Sie hörten ihn nun vor Enttäuschung fluchen, als er am Ufer angelangt war und ihm nichts weiter übrig blieb, als dem davonstiebenden Boot wütend hinterherzustarren. So blieb er eine Weile mit hängenden Armen stehen; er schien sich seiner Nacktheit nicht im geringsten zu schämen; das einzige, was ihn zu interessieren schien, war das Motorboot. Auch der Mann im Boot schaute zurück und bemerkte offenbar gar nicht, wo er hinsteuerte.
Der Nackte verschwand so plötzlich, daß Ellery zweimal hinsehen mußte. Er hatte sich mit einem schnellen Sprung vom Rand der Anlegestelle abgestoßen und war wie eine Harpune ins Meer geglitten. Als er einen Moment später wieder auftauchte, sah man ihn wie verrückt in Richtung Motorboot zu kraulen.
»Dieser Idiot!« brüllte Isham. »Glaubt er, er kann das Motorboot einholen, oder was?«
»Der Motor ist ausgefallen«, bemerkte Ellery trocken.
Isham, plötzlich verunsichert, starrte angestrengt auf das kleine Boot. Es trieb etwa einhundert Meter vom Ufer entfernt hilflos auf dem Wasser, und der Mann werkelte wie ein Besessener an seinem verstummten Motor herum.
»Schnell!« rief Inspector Vaughn dem Kapitän der Polizeibarkasse zu. »Dem Kerl da hinten trau‘ ich nicht!«
Der Motor des Polizeibootes brummte auf, und die Sirene schickte ein tiefes Heulen übers Wasser. Hinter der Insel hörte man das Echo. Der Mann im Boot schien die Barkasse erst jetzt zu bemerken; sowohl er als auch der Mann im Wasser hielten inne, um das Sirenengeheul zu orten. Der Schwimmer, der sich nicht mehr vom Fleck bewegt hatte, starrte einen Moment lang auf das Polizeiboot, schüttelte wild das Wasser aus seinen langen Haaren und tauchte ab. Als er kurze Zeit später wieder an die Oberfläche kam, begann er erneut zu kraulen; doch nun schwamm er zurück zur Insel, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Das Mädchen auf der Ruderbank richtete sich auf und blickte sich um. Der Mann sank erschöpft gegen die Heckplanken und winkte dem Polizeiboot zu.
Im selben Augenblick, in dem Barkasse und Motorboot endlich Seite an Seite lagen, erreichte der Schwimmer das Ufer der Insel. Ohne sich noch einmal umzusehen, verschwand er im Gestrüpp.
Als das Polizeiboot gerade am antriebslosen Außenborder anhakte, warf der Mann seinen Kopf in den Nacken und begann lauthals zu lachen -es war ein volles, herzhaftes Lachen, das Erleichterung und Freude verriet.
Der Mann, dessen Alter man schwer schätzen konnte, war dünn und drahtig, hatte bräunliches Haar und ein Gesicht, das nur die tropische Sonne viele Jahre lang so dunkel, ja fast purpurfarben gebrannt haben konnte. Seine Augen wirkten wie ausgebleicht -wassergrau, fast ohne Farbe. Sein Mund wirkte eisern; die Kiefermuskeln zeichneten sich unter seinen purpurnen Wangen wie Stählträger ab. Insgesamt eine beeindruckende Persönlichkeit trotz seiner Flucht, befand Ellery, als er dem Mann zusah, wie er sich in seiner ekstatischen Freude auf den Holzplanken wälzte.
Das Mädchen, das der Mann entführt hatte, konnte nur Jonah Lincolns aufsässige Schwester Hester sein; die junge Frau sah ihm sehr ähnlich. Sie war nicht hübsch, hatte aber eine blendende Figur, wie die verlegenen Männer vom Polizeieinsatz gezwungen waren festzustellen, obwohl sie eine Herrenjacke um ihre Schultern drapiert hatte. Der fröhliche Bootsbesitzer hatte, wie Ellery bemerkte, keine an. Unter der Jacke war sie notdürftig mit schmutzigem Leinen bedeckt, als hätte jemand den ersten greifbaren Stoffetzen über ihre Blöße geworfen.
Sie erwiderte die Blicke der Männer aus beunruhigten blauen Augen, wurde plötzlich rot, ließ ihren Kopf hängen und begann zu zittern. Ihre Hände rutschten kraftlos in ihren Schoß.