späte Nachmittagssonne malte lange Schatten an die Wände. Haracht steuerte direkt auf seinen Altar zu, als ob er dort Sicherheit fände. Ohne die Besucher zu beachten, begann er, seine knochigen fleischlosen Arme zum Himmel reckend, eine seltsame Sprache zu murmeln.
Ellery sah Professor Yardley fragend an, der, hochgewachsen und häßlich, wie er war, ein wenig seitab stand und aufmerksam lauschte. »Ganz außergewöhnlich«, murmelte er. »Der Mann ist ein lebender Anachronismus. Einen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts fließend Altägyptisch sprechen zu hören ...«
Ellery war verblüfft. »Wollen Sie damit sagen, daß der Mann weiß, was er da redet?«
Yardley lächelte melancholisch und flüsterte: »Er ist zwar geisteskrank, aber die Gebete sind authentisch ... Er selbst nennt sich Ra-Haracht. In Wirklichkeit ist -oder war -er einer der bedeutendsten Ägyptologen der Welt!«
Je länger er der sonoren Stimme lauschte, desto heftiger schüttelte Ellery den Kopf.
»Ich hatte Ihnen das eigentlich schon länger sagen wollen; aber ich hatte ja noch keinerlei Gelegenheit, Sie unter vier Augen zu sprechen. Ich habe ihn sofort wiedererkannt, als ich vor einigen Wochen aus reiner Neugier rübergerudert bin ... Sonderbare Geschichte. Sein Name ist Stryker ... Er hat einen schweren Sonnenstich erlitten, während er im Tal der Könige Ausgrabungen leitete, und sich nie wieder davon erholt. Was für ein Schicksal!«
»Und was soll das sein, was er da murmelt?« fragte Ellery ungläubig.
»Er intoniert gerade ein priesterliches Gebet an Horus - in der hieratischen Sprache. Dieser Mann«, betonte Yardley ernst, »war eine absolute Koryphäe. Natürlich wirft er jetzt alles durcheinander; und sein Gedächtnis ist auch nicht mehr, was es einmal war. Die Geisteskrankheit hat seine einmaligen
Kenntnisse zu einem abenteuerlichen Konglomerat verschmolzen. Im streng wissenschaftlichen Sinne gibt es einen solchen Sakralraum gar nicht -alles ist durcheinandergewürfelt. Das Sistrum und das Rindergehörn sind Isis geweiht, der Uräus ist das Wahrzeichen der Gottheit; aber es finden sich auch Horuselemente. Was das übrige Inventar angeht, so nehme ich zum Beispiel an, daß die Gläubigen während der Gottesdienste auf den Holzliegen ruhen ...« Der Professor zuckte die Schultern. »Die unmotivierten Zusammenstellungen sind der Nachhall einer zerstörten Intelligenz.«
Haracht ließ die Arme wieder sinken und nahm aus einer Nische hinter dem Altar ein sonderbares Gefäß, besprengte seine Lider mit dem Inhalt und stieg schweigend von der Kanzel herunter. Er lächelte sogar ein wenig und schien klarer zu sein als sonst.
Ellery beobachtete ihn aus gänzlich neuer Perspektive. Ob nun krank oder nicht -seit Haracht als ehemalige Kapazität gelten mußte, stellten sich die Probleme ganz neu. Während er sein Gedächtnis durchforstete, tauchten vage Bilder darin auf. Vor Jahren, als er noch zur Schule ging ... Ja, das war derselbe Mann, über den er gelesen hatte. Stryker, der Ägyptologe! Murmelte nun eine Sprache vor sich hin, die seit Jahrtausenden ausgestorben war ...
Als Ellery sich herumdrehte, sah er schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Altarraums in einer Tür, Hester Lincoln, nun mit Bluse und kurzem Rock angetan. Ihr derbes, doch weißes Gesicht verriet eiserne Entschlossenheit. Ohne Dr. Temple eines Blickes zu würdigen, durchquerte sie den Raum und gesellte sich offen zu Paul Romaine. Sie nahm Romaines Hand. Der jedoch lief zu aller Erstaunen krebsrot an und tat einen Schritt zur Seite. Dr. Temple schmunzelte.
Inspector Vaughn verlor allmählich die Geduld; entschlossen marschierte er auf Stryker zu, doch Ra-Haracht blieb vollkommen ruhig und musterte ihn neugierig. »Können Sie mir ein paar einfache Fragen beantworten?«
Der alte Mann nickte kurz. »Fragen Sie!«
»Wann haben Sie Weirton, West Virginia, verlassen?«
Sein Blick flackerte. »Nach dem Kuphi-Ritus vor fünf Monden.«
»Wann?« brüllte Vaughn.
Professor Yardley hustete höflich. »Ich glaube, ich kann Ihnen erklären, was er meint. Der Kuphi-Ritus, wie er ihn nennt, wurde von den pharaonischen Priestern bei Sonnenuntergang vollzogen. Es handelte sich um eine ausgefeilte Zeremonie, bei der Kuphi, aus etwa sechzehn Zutaten wie Honig, Wein, Harz, Myrrhe und so weiter hergestellt, in einem bronzenen Räuchergefäß zusammengerührt wurde, während die heiligen Schriften verlesen wurden. Er bezieht sich wohl auf eine ähnliche Sitzung, die vor etwa fünf Monden abgehalten worden ist - im Januar also.«
Professor Vaughn nickte, und Stryker lächelte dem Professor anerkennend zu.
»Krosac!« rief Ellery so plötzlich in die Stille hinein, daß alle zusammenfuhren.
Seine Augen leuchteten erwartungsvoll, während er die Reaktion des Sonnengottes und seines Geschäftsführers abwartete.
Strykers Lächeln erstarb, die Muskeln um seinen Mund herum begannen zu zucken, und er strebte zu seinem Altar zurück. Romaine blieb ungerührt; seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er gar erstaunt.
»Tut mir leid«, sagte Ellery leise. »Ich habe das manchmal. Fahren Sie fort, Inspector.«
»Das war gar keine schlechte Idee«, grinste Vaughn. »Haracht, wo ist Velja Krosac?«
Stryker leckte sich die Lippen. »Krosac ... Nein, Nein! Ich weiß es nicht. Er ist vom Glauben abgefallen. Er ist fortgelaufen.«
»Wann haben Sie sich denn diesem Spinner angeschlossen?« fragte Isham und wies mit dem Zeigefinger auf Romaine.
»Wer zum Teufel ist Krosac?« grollte Romaine. »Ich weiß nur, daß ich im Februar auf den Alten getroffen bin und von seiner Idee fasziniert war.«
»Wo war das?«
»In Pittsburgh. Das war meine Chance«, fuhr Romaine mit einem Achselzucken fort. »Wenn man einmal«, er senkte seine Stimme, »von dem esoterischen Quatsch absieht ... Der zieht zwar bei den simplen Gemütern, aber mir geht es nur darum, Leute dazu zu kriegen, ihre muffigen Kleider auszuziehen und Sonne an ihre Haut zu lassen. Schauen Sie mich doch einmal an!« Er atmete tief ein, und seine breite Brust blähte sich auf wie ein Ballon. »Wie Sie sehen, bin ich kerngesund. Nichts ist wohltuender, als die Sonnenstrahlen auf und unter die Haut zu lassen ...«
»Ja, ja«, winkte der Inspector ab, »ich kenn‘ das Reklamegeschwätz. Hören Sie, ich trage Kleider, seit ich die Wiege verlassen habe und könnte Sie trotzdem so umpusten, wenn ich wollte! Wie genau sind Sie nach Oyster Island gekommen?«
»Mich umpusten -daß ich nicht lache!« Romaines Muskeln schwollen an. »Kommen Sie schon, probieren Sie‘s mal! Ich -«
»Es war der Wille der Götter!« krächzte Stryker eifrig.
»Der Wille der Götter?« Isham runzelte die Stirn. »Was meint er denn jetzt schon wieder?«
Stryker wich zurück. »Der Wille der Götter!«
»Hören Sie nicht hin!« sagte Romaine. »Wenn er anfängt zu bocken, bekommen Sie kein vernünftiges Wort aus ihm heraus. Als ich mich ihm anschloß, hat er dasselbe Zeug gefaselt. Es sei der Wille der Götter, daß wir auf die Insel gehen.«
»Das war, bevor er Sie zur -äh -Vizegottheit gekürt hat, wie?« fragte Ellery.
»Ja.«
Das Gespräch war in eine Sackgasse geraten. Es war unübersehbar, daß von dem sonnenversengten Ägyptologen keine verwertbaren Aussagen mehr zu erwarten waren. Romaine wußte nichts von den Ereignissen, die ein halbes Jahr zurücklagen - oder gab vor, nichts davon zu wissen.
Die weiteren Ermittlungen ergaben, daß dreiundzwanzig Nudisten auf der Insel lebten, zum größten Teil aus New York, die sich von diesem zweifelhaften Arkadien aufgrund raffiniert aufgemachter Anzeigen und der persönlichen Missionsarbeit Romaines hatten ködern lassen. Die Anreisemöglichkeiten stellte die örtliche Eisenbahn; mit dem Taxi ging es dann weiter zu einem öffentlichen Anlegesteg am äußeren Ende von Dr. Temples Grundstück. Ketcham, der Eigentümer der Insel, setzte sie dann für ein geringes Fährgeld in einem altertümlichen Ruderboot über.