»Der Brief hier«, sagte er, »is‘ von diesem Kro-sac. Schaunse selbst.«
Vaughn schnappte sich den Brief; Ellery und Isham sahen ihm über die Schulter. Es handelte sich um eine maschinengeschriebene Mitteilung auf gewöhnlichem Briefpapier; als Datum war der dreißigste Oktober des vorangegangenen Jahres angegeben. Das Schreiben antwortete, wie zu entnehmen war, auf eine Anzeige in einer New Yorker Zeitung, in der Oyster Island für die Sommermonate zur Pacht angeboten worden war. Der Verfasser des Briefes hatte eine Postanweisung über 100 Dollar beigefügt als Kaution bis zum Pachtantritt, welcher am ersten März des nächsten Jahres erfolge. Die Unterschrift - Velja Krosac - war ebenfalls getippt.
»Die Postanweisung hat auch tatsächlich beigelegen, Mr. Ketcham?« fragte Vaughn sofort.
»Hatse.«
»Sehr gut«, sagte Isham händereibend. »Das Postamt, von dem der Brief abgeschickt worden ist, läßt sich ermitteln; und so kriegen wir auch den Wisch in die Finger, den Krosac dort ausgefüllt haben muß -mitsamt seiner Unterschrift. Und damit hätten wir schon ’ne ganze Menge.«
»Ich fürchte«, murmelte Ellery, »wenn Krosac, unsere ebenso geschätzte wie hakenschlagende Beute, so gerissen ist, wie sein bisheriges Vorgehen suggeriert, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn auf dem Postanweisungsformular die Unterschrift von Freund Haracht prangt. Schon während der Ermittlungen im Fall Van hat sich ja keine einzige Probe von Krosacs Handschrift gefunden.«
»Ist dieser Krosac am ersten März persönlich erschienen?« fragte der Staatsanwalt.
»Nein, Sir. Ein Kro-sac hat sich hier nie blicken lassen. Aber der spinnerte Alte da drüben -Har-Haracht, oder wie er sich schimpft -der is‘ zusammen mit diesem Romaine gekommen; se ha‘m dann den Rest bar bezahlt un‘ ham sich drüben breitgemacht.«
Vaughn und Isham ließen das Thema Krosac fallen; es war allzu offensichtlich, daß der alte Mann nichts über ihn wußte. Der Inspector steckte den Brief ein und begann, Fragen zum Streit zwischen Brad und Haracht zu stellen. Es kam heraus, daß Brad, sobald feststand, daß die Leute wirklich splitternackt auf der Insel herumliefen, persönlich auf der Insel erschienen war, um dem einmütigen Protest der Nachbarn auf dem Festland Ausdruck zu verleihen. Haracht hatte jedoch allen Versuchen, ihn zu beschwatzen oder ihm zu drohen, eisern widerstanden; und Romaine hatte lediglich die Zähne gebleckt. Brad hatte ihnen dann in seiner Verzweiflung eine stattliche Summe in Aussicht gestellt, wenn sie ihre Zelte abbrächen.
»Wer hat den Pachtvertrag eigentlich unterschrieben?« fragte Isham.
»Das alte Stinktier«, antwortete Ketcham.
Haracht und Romaine hatten Brads Angebot abgelehnt. Schließlich hatte Brad gedroht, rechtliche Schritte gegen die Männer einzuleiten, die mit ihrem Pulk seiner Meinung nach ein öffentliches Ärgernis darstellten. Romaine hatte dagegengehalten, daß sie niemandem schadeten, daß die Insel fernab öffentlicher Verkehrswege liege und das Eiland für die Dauer des Vertrages gewissermaßen ihnen gehöre. Daraufhin hatte Brad versucht, Ketcham dazu zu bewegen, die Störenfriede unter Berufung auf nämliches Gesetz mit rechtlichen Mitteln zu vertreiben.
»Aber mir un‘ Mrs. Ketcham hamse ja nix getan«, lamentierte der alte Mann. »Mr. Brad hat mir dann ’nen Riesen
geboten, wenn ich‘s mach‘. Nee, Sir, sag‘ ich, der alte Ketcham macht so was nich‘, der alte Ketcham geht nich‘ vor‘n Kadi.«
Der letzte Streit, fuhr Ketcham fort, hatte vor drei Tagen stattgefunden -am Sonntag. Brad war wie Menelaos auf seiner Fahrt nach Troja übers Wasser gebraust und hatte Stryker im Wald zur Rede gestellt. Es hatte eine hitzige Auseinandersetzung gegeben, in deren Verlauf der kleine Zottelbart sich in einen Tobsuchtsanfall hineingesteigert hatte. »Dachte schon, den trifft der Schlag«, erinnerte sich Ketcham. »Dieser Romaine -is‘ ja ‘n ziemlicher Bär von Kerl -geht dann dazwischen und brüllt Mr. Brad an, er soll abhauen. Ich hab‘ das nur hinterm Baum mitgekriegt, ging mich ja ‘n Dreck an. Mr. Brad sagt dann, er geht nich‘, un‘ Romaine packt‘n beim Kragen un‘ sagt: ›Jetzt hauen Sie ab, oder ich verpass‘ Ihnen dermaßen eine, daß Ihre Alte Sie nich‘ mehr wiedererkennt!‹ un‘ Mr. Brad brüllt zurück, dasser se kleinkriegt, auch wenn’s ihn den letzten Penny kostet.«
Isham rieb sich erneut die Hände. »Sie sind in Ordnung, Ketcham, ich wünschte, es gäb‘ hier mehr von Ihrem Schlag. Aber jetzt verraten Sie uns noch - hat noch sonst irgendwer vom Festland Streit mit Haracht und Romaine gehabt?«
»Worauf Se Gift nehm‘ könn‘.« Ketcham strahlte vor Wichtigkeit. »Dieser Jonah Lincoln -wohnt auch in Bradwood. Der hat sich letzte Woche hier auf der Insel mit Romaine gekloppt.« Seine eingetrockneten Lippen gaben ein Schmatzgeräusch von sich. »Mann, das war‘n Kampf! Wie bei den Boxmeisterschaften. Lincoln is‘ rüber, um seine Schwester nach Hause zu holen. Die war nämlich grad hier angekomm.«
»Und dann?«
Der Alte wiegte den Kopf unmißverständlich; seine Augen blitzten. »Hat ja ’ne gute Figur, die Kleine. Kommt hier her un‘ reißt sich die Kleider vom Leib, so wahr ich Ketcham heiß‘, un‘ das vor den zwei‘n. War total hysterisch, weil ihr Bruder sich
eingemischt hat. Er hätt‘ se unter der Knute gehabt, seit se laufen kann, aber jetz‘ könnt‘ se machen, was ihr paßt ... Das war‘n Theater, sag‘ ich Ihnen. Hab‘ durch die Bäume gespingst ...«
»Ketcham, du alter Bock!« krächzte eine Stimme aus dem Inneren des Blockhauses. »Du solltest dich was schämen!«
»Mm«, grunzte Ketcham ernüchtert. »Nu ja, als Lincoln dann klar wird, seine Schwester geht nich‘ zurück, un‘ sieht se da völlig nackich stehn -stellnse sich das bloß ma‘ vor -, un‘ Romaine glotzt se nich‘ grad unschuldig an, da schmiert er Romaine eine, un‘s gibt ’n Gerangel. Romaine prügelt Lincoln windelweich, aber der nimmt‘s hin wie‘n Mann. Mut hatter ja, muß man ihm lassen. Un‘ dann schmeißt Romaine den armen Jung‘ doch einfach -platsch! -ins Wasser! Hat Bärenkräfte, der Kerl, sag‘ ich Ihnen!«
Von dem geschwätzigen Alten war nun endgültig nichts Interessantes mehr zu erwarten.
Die Männer kehrten zur Barkasse zurück. Sie fanden einen friedlich paffenden Professor Yardley vor, während Dr. Temple mit hochrotem Kopf an Deck auf und ab paradierte; sein Gemütsbarometer stand auf Sturm.
»Was Neues herausgefunden?« fragte Yardley träge.
»Wenig.«
Als die Barkasse schließlich losknatterte und Kurs aufs Festland nahm, herrschte unter den Männern ein tiefes, gedankenverlorenes Schweigen.
10. Dr. Temples Abenteuer
Der Nachmittag war vorangeschritten. Staatsanwalt Isham verabschiedete sich. Der Strom der unergiebigen Aufträge, die Inspector Vaughn erteilte, und der ebenso unergiebigen Berichte, die ihn erreichten, wollte nicht abreißen. Auf Oyster Island schien alles still zu sein. Mrs. Brad hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen -krank, wie es hieß -, und ihre Tochter Helene kümmerte sich um sie. Jonah Lincoln wanderte unruhig über das Grundstück. Überall sah man gähnende Polizisten.
Reporterschwärme kamen und gingen und erfüllten den milden Abend mit ihren Blitzlichtgewittern.
Ellery, der sich noch sehr wach fühlte, folgte Professor Yardley über die Hauptstraße und durch ein hohes Steintor auf der anderen Seite. Sie kamen auf einen Kiesweg, der sie zu Yardleys Haus führte. Beide waren sie gedämpfter Stimmung und mit ihren Gedanken beschäftigt.
Die Dämmerung setzte ein; langsam breitete sich über die Gegend eine kohlschwarze, sternlose Finsternis. Oyster Island schien in den dunklen fluten zu versinken.
In stillschweigendem Einvernehmen berührten weder Ellery noch sein Gastgeber das heikle Thema, das sie so sehr beschäftigte. So plauderten sie über angenehmere Dinge -über die alten Zeiten an der Uni, den verkalkten Rektor, Ellerys erste Ausflüge in die Welt des Verbrechens; Yardleys gemächliche Karriere, seit sie sich aus den Augen verloren hatten ... Um elf schließlich hüllte Ellery seine Lenden in einen Flanellpyjama und legte sich schlafen. Der Professor saß noch eine Stunde in seinem Arbeitszimmer, rauchte Pfeife und schrieb ein paar Briefe. Dann ging auch er zu Bett.