Es war bereits Mitternacht, als sich auf der Veranda von Dr. Temples Steinhaus etwas regte: Der Doktor persönlich, in schwarzen Hosen, schwarzem Hemd und schwarzen Mokassins, machte seine Pfeife aus, schlich lautlos von seiner Veranda herunter und verschwand im düsteren Wald zwischen seinem Haus und der östlichen Grenze von Bradwood.
Außer den unermüdlich zirpenden Grillen schien alles fest zu schlafen. Vor dem schwarzen Hintergrund des nächtlichen Waldes war er unsichtbar -ein konturloser, verstohlener Schatten -, nicht einmal seine Haut verriet ihn. Wenige Meter von der östlichen Straße entfernt, verharrte er hinter einem Baum. Jemand stampfte die Straße entlang -in seine Richtung. Dr. Temple erkannte vage die Silhouette eines uniformierten Bezirkspolizisten, der die Straße entlang patrouillierte. Der Polizist stampfte an ihm vorbei auf die Ketcham‘s Bay zu.
Als seine Schritte nicht mehr zu hören waren, überquerte Dr. Temple flink und leichtfüßig die Straße, fand zwischen den Bäumen Bradwoods sogleich wieder Schutz und arbeitete sich weiter lautlos in westliche Richtung vor. Er brauchte eine halbe Stunde, um das eigentliche Bradwood zu durchqueren, ohne die Aufmerksamkeit der verstreut lauernden Wachen auf sich zu lenken. Er strich am Gartenhaus, dem Totempfahl, an einem hohen Drahtzaun, der einen Tennisplatz umsäumte, an der Villa und dem Hauptweg, der zu Brads Anleger führte, und Fox‘ Wohnhütte vorbei, bis er an die Straße im Westen gelangte, die Bradwood vom Grundstück der Lynns trennte.
Jede Faser seines Körpers war bis zum Zerreißen gespannt. Er schlüpfte nun in den Wald hinein und arbeitete sich mit doppelter Vorsicht in dieselbe Richtung vor, bis das Haus der Lynns schwarz und bedrohlich frontal vor ihm aufragte. Temple tastete sich auf die Nordseite, wo die Bäume sehr dicht standen und fast bis ans Haus heranreichten.
Das Fenster in seiner Nähe war erleuchtet -er hockte keine zwei Meter davon entfernt hinter einer alten Platane -, die Jalousie war jedoch ganz heruntergezogen. Schlurfende Geräusche drangen aus dem Zimmer an sein Ohr. Es war das Schlafzimmer. Einmal wanderte Mrs. Lynns breiter Schatten am Fenster vorbei. Dr. Temple kroch nun, indem er vorsichtig Zentimeter um Zentimeter ertastete, auf den Knien vorwärts, bis er direkt unter dem Fenster lag.
Im selben Augenblick hörte er, wie eine Tür geschlossen wurde, und dann hörte er die Piepsstimme von Mrs. Lynn, schriller als sonst: »Percy! Hast du ihn verbuddelt?«
Dr. Temple biß die Zähne zusammen; der Schweiß lief an seinen Schläfen herunter, doch er gab keinen Laut von sich.
»Um Himmels willen, Beth, nicht so laut!« Percy Lynn klang sehr nervös. »Hier wimmelt es nur so von Bullen!«
Schritte kamen in die Nähe des Fensters; Temple schmiegte sich eng an die Hauswand und hielt den Atem an. Die Jalousie wurde hochgezogen. Lynn schaute hinaus. Sofort wurde die Jalousie wieder heruntergelassen.
»Wo?« flüsterte Elizabeth Lynn.
Dr. Temple spannte die Muskeln an und spitzte mit höchster Konzentration die Ohren. Er zitterte vor Anstrengung. Doch so aufmerksam er auch horchte, die geflüsterte Antwort konnte er nicht verstehen ...
Dann -etwas lauter -»Sie werden ihn nie finden. Wenn wir abhauen, sind wir aus dem Schneider.«
»Aber Dr. Temple - ich hab‘ Angst, Percy!«
Lynn fluchte leise. »Ist ja gut, ich erinnere mich. Das war in Budapest direkt nach dem Krieg. Die Bundelein-Affäre ... Ja, verdammt, es ist derselbe Mann, das könnt‘ ich beschwören.«
»Er hat aber bisher den Mund gehalten«, flüsterte Mrs. Lynn. »Vielleicht hat er‘s ja vergessen.«
»Der nicht! Letzte Woche bei den Brads hat er mich pausenlos fixiert. Wir müssen extrem vorsichtig sein, Beth. Wir stecken verdammt tief drin.«
Das Licht ging aus, eine Sprungfeder quietschte; die Stimmen wurden zu einem unverständlichen Gemurmel. Dr. Temple verharrte noch lange regungslos unter dem Fenster, es war jedoch nichts mehr zu hören. Die Lynns hatten sich schlafen gelegt.
Er richtete sich zu voller Größe auf, horchte ein paar Sekunden und stahl sich dann in den Wald zurück. Ein geisterhafter Schatten, der von Baum zu Baum glitt ...
Als er durch den Wald kam, der die mondsichelförmige Ketcham‘s Bay säumte, konnte er hören, wie die Wellen am Steg leckten. Einmal mehr verharrte er hinter einem Baum; schwache Stimmen drangen von der Bucht her an sein Ohr. Mit übermenschlicher Vorsicht schlich er sich näher an den Strand heran, bis das nachtschwarze Wasser zu seinen Füßen gluckste. Er kniff die Augen zusammen: Etwa drei Meter vom Steg entfernt schaukelte ein Ruderboot. Es ließen sich vage zwei Gestalten ausmachen, die in der Mitte des Bootes saßen -ein Mann und eine Frau. Die Frau hatte ihre Arme um den Mann geschlungen und flehte ihn verzweifelt an.
»Warum bist du so kalt zu mir? Nimm mich mit auf die Insel, dort sind wir sicherer - unter den Bäumen ...«
Die Stimme des Mannes antwortete gedämpft: »Du benimmst dich wie ein dummes Huhn! Es ist zu gefährlich, sag‘ ich dir. Ausgerechnet heute! Hast du den Verstand verloren oder was? Irgendwer wird dich vermissen, und dann sind wir dran. Ich hab‘ dir so oft gesagt, daß wir uns nicht mehr sehen dürfen, zumindest bis der ganze Spuk vorbei ist.«
Die Frau riß ihre Arme von dem Mann los und begann verzweifelt zu schluchzen: »Ich hab‘s ja gleich gewußt! Du liebst mich nicht mehr! Oh, es ist so -«
Er preßte eine Hand auf ihren Mund und flüsterte wütend: »Halt den Mund! Hier sind überall Bullen!«
Einen Moment lang entspannte sie sich in seinen Armen. Dann stieß sie ihn mit beiden Händen von sich und setzte sich langsam wieder auf. »Nein, du kriegst sie nicht! Dafür werde ich sorgen!«
Der Mann schwieg. Dann nahm er eins der Ruder und stakte das Boot an Land. Die Frau stand auf. Er schubste sie grob aus dem Boot, stieß sich hastig ab und begann, nach Leibeskräften zu rudern - in Richtung Oyster Island.
Als der Mond die Szenerie in sein Licht tauchte, erkannte Dr. Temple in dem davonrudernden Mann Paul Romaine.
Und die Frau, die zitternd und totenbleich am Ufer stand, war niemand anders als Mrs. Brad.
Dr. Temple schüttelte fassungslos den Kopf und verschwand im Wald.
11. Hussa!
Als Ellery am nächsten Morgen den Kiesweg nach Bradwood hinaufging, sah er schon von weitem den Dienstwagen des Staatsanwalts in der Einfahrt parken. Die Mienen der Beamten, die darum herumstanden, spiegelten erwartungsvolle Spannung. Da offenbar etwas Besonderes im Gänge war, beschleunigte er seinen Schritt und eilte die Treppen der herrschaftlichen Veranda hinauf ins Haus.
Er fegte an einem bleichen Stallings vorbei ins Arbeitszimmer. Dort stieß er auf einen hyänenhaft grinsenden Isham und einen Inspector mit geschwollenem Kamm; beide fixierten Fox, den gärtnernden Chauffeur. Fox stand mit zusammengepreßten Händen vor Isham, wirkte jedoch sehr ruhig. Lediglich seine Augen verrieten innere Aufwühlung. Mrs. Brad, Helene und Jonah Lincoln standen wie die drei Parzen neben ihm.
»Kommen Sie nur herein, Mr. Queen«, bat Isham herzlich. »Sie kommen gerade noch rechtzeitig. Fox, wir haben Sie sowieso. Sie können also ruhig den Schnabel aufmachen.«
Ellery trat leise nach vorn. Fox rührte sich nicht. Selbst seine Lippen blieben unbewegt.
»Ich verstehe das alles nicht«, gab er schließlich schwach
zurück; es war jedoch nur zu deutlich, daß er sehr wohl verstand und sich auf das Unvermeidliche gefaßt machte.