»Wie meinen Sie das?« fragte der Professor.
»Nur ein einziger Zeuge kennt Krosac von Angesicht zu Angesicht«, antwortete Ellery ernst, »nämlich Stryker, auf dessen Aussage kein Verlaß ist. Wer also ist Krosac? Wer ist Krosac jetzt? Er könnte jeder von uns sein.«
»Unsinn!« brummte der Professor beklommen. »Ein Jugoslawe, vermutlich mit kroatischem Akzent, der dazu noch das linke Bein nachzieht ...«
»So unsinnig ist das gar nicht, Professor. Nationalitäten verschmelzen in diesem Land sehr schnell; und wir wissen mit Sicherheit, daß Krosac während seiner Unterhaltung mit Croker, dem Tankstellenbetreiber von Weirton, fließend und akzentfrei Englisch sprach. Ich wiederhole: Er könnte mitten unter uns sein! Sie haben den Mordfall Brad nicht gründlich genug analysiert.«
»Ach nein?« zischte Yardley. »Kann ja sein. Aber eines sage ich Ihnen, junger Mann! Sie ziehen voreilige Schlüsse!«
»Das habe ich schon oft getan.« Ellery stand auf und sprang zum zweiten Mal in den Pool. Das Wasser tropfte ihm von der Stirn ins Gesicht, als er wieder auftauchte. »Ich werde ja nicht so unfair sein, darauf hinzuweisen, daß es Krosac war, der dafür gesorgt hat, daß die Sonnenanbeter in der Nachbarschaft von Bradwood kampieren -und zwar noch vor dem Mord an Van ... Netter Zufall, was? -Also könnte er sehr wohl in unserer Nähe sein Jetzt haben Sie sich mal nicht so!« Er kletterte wieder aus dem Becken, legte sich auf den Boden und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Lassen Sie uns das Ganze noch einmal durchgehen. Beginnen wir mit Krosac, Jugoslawe, der einen, sagen wir, Mitteleuropäer mit angeblich rumänischer Herkunft sowie einen anderen Mitteleuropäer mit angeblich armenischer Herkunft umbringt. Drei Mitteleuropäer also, vermutlich alle aus demselben Land; denn wie die Dinge liegen, bringt mich keiner von der Überzeugung ab, daß Van und Brad ihre wahre Herkunft verschleiert haben.«
Der Professor brummte leise und brauchte zwei Streichhölzer, um seine Pfeife anzuzünden. Ellery, auf dem warmen Marmorboden ausgestreckt, zündete sich eine Zigarette an und schloß die Augen. »Was für Tatmotive kommen da in Frage? Mitteleuropa? Der Balkan -wie jeder weiß, traditionelle Brutstätte von Aberglauben und Gewalt! Fällt Ihnen dazu etwas ein?«
»Meine Kenntnisse, den Balkan betreffend, sind weniger als rudimentär«, antwortete der Professor gleichgültig. »Die einzige Assoziation, die das Wort ›Balkan‹ bei mir auslöst, ist die Vorstellung von jenem absonderlichen, skurril anmutenden Volksglauben, der seit Jahrhunderten diesen Teil der Welt beherrscht. Muß wohl die Folge minderer Intelligenz und des Lebens in verlassenen Berggegenden sein.«
»Ha! Da sagen Sie was«, schmunzelte Ellery, »Vampirismus! Erinnern Sie sich an Dracula, Bram Stokers unsterblichen Beitrag zu den Alpträumen rechtschaffener Bürgersleute -die Geschichte eines Vampirs in Menschengestalt, die in Mitteleuropa spielt? Mit Enthauptungen und allem?«
»Hirngespinste«, erwiderte Yardley mit unsicherem Blick.
»Ganz recht«, entgegnete Ellery prompt. »Allein schon deshalb, weil Van und Brad keine Pflöcke ins Herz getrieben wurden. Kein Vampirist, der etwas auf sich hält, würde auf dieses nette Detail verzichten. Wären die Opfer jedoch gepfählt worden, dann wäre ich beinahe überzeugt, daß wir es mit einem abergläubischen Psychopathen zu tun hätten, der Menschen tötet, weil er sie für Vampire hält.«
»Das meinen Sie aber jetzt nicht ernst!« protestierte Yardley.
Ellery zog schweigend an seiner Zigarette. »Wenn ich das bloß wüßte! Wissen Sie, Professor, wir Kinder der Aufklärung mögen den Gedanken an Gestalten aus dem Gruselkabinett ja als indiskutabel abtun; wenn aber nun unser Mr. Krosac an Vampire glaubt und hier und da mal jemandem den Kopf abschlägt, können wir doch nicht ernsthaft die Augen vor der Realität seiner Wahnvorstellungen schließen. Das ist eine Frage des Pragmatismus. Wenn er daran glaubt ...«
»Was macht eigentlich Ihr ›Ägyptisches Kreuz‹?« fragte der Professor ernst; indem er sich höher aufrichtete und herumrutschte, bis er eine bequemere Haltung gefunden hatte, als erwarte er eine längere Diskussion.
Ellery setzte sich auf und umklammerte mit den Händen seine braunen Knie. »Was soll schon damit sein? Sie haben einen Ihrer Trümpfe noch nicht ausgespielt, soviel haben Sie ja gestern schon angedeutet. Habe ich, um mich klassisch auszudrücken, einen Bock geschossen?«
Der Professor klopfte wirkungsvoll den Pfeifenkopf aus, legte die Pfeife auf den Beckenrand, wühlte in seinem schwarzen Bart und wurde auf einmal unglaublich professoral. »Mein Junge«, begann er feierlich, »Sie haben einen Narren aus sich gemacht.«
Ellery runzelte die Stirn. »Sie meinen, das Tau-Kreuz ist kein ägyptisches Kreuz?«
»Sie haben es erfaßt.«
Ellery wiegte sich sanft hin und her. »Die Stimme der Autorität ... hmm. Sie hätten nicht zufällig Lust auf eine kleine Wette, Professor?«
»Ich gehe grundsätzlich keine Wetten ein, dazu ist mein Portemonnaie nicht dick genug Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, daß die crux commissa auch als ›Ägyptisches Kreuz‹ bekannt sein soll?«
»Steht in der Encyclopaedia Britannica. Vor etwa einem Jahr habe ich im Zusammenhang mit einem Roman, an dem ich saß, über Kreuze im allgemeinen recherchiert. Ich meine, gelesen zu haben, das Tau-oder T-Kreuz sei ein im alten Ägypten übliches Symbol gewesen und werde daher auch gelegentlich als ›Ägyptisches Kreuz‹ bezeichnet, oder so ähnlich. Nun, wie auch immer; ich erinnere mich jedenfalls ganz klar, daß in dem Artikel über das fragliche Kreuz die Begriffe Tau und ägyptisch in Beziehung gesetzt wurden. Wir können das gerne nachschlagen.«
Der Professor lachte. »Ich glaub‘s Ihnen auch so. Ich weiß ja nicht, wer den Artikel verfaßt hat; aller Wahrscheinlichkeit nach ein hochgelehrter Mann. Dennoch ist die Encyclopaedia Britannica wie alles Menschenwerk nicht unfehlbar; außerdem ist sie nicht immer die letzte Autorität. Ich persönlich bin zwar auch kein Ägyptenexperte, verstehen Sie mich da also nicht falsch, aber ich habe mich dennoch einige Zeit mit dem pharaonischen Ägypten beschäftigt und kann Ihnen versichern, daß ich über eine Bezeichnung wie ›Ägyptisches Kreuz‹ nie in meinem Leben gestolpert bin. Es muß sich um einen Irrtum handeln. Und doch gibt es ja etwas Ägyptisches mit T-Form ...«
Ellery war verwirrt. »Ja, warum behaupten Sie dann, das Tau sei kein -«
»Weil es das nicht ist.« Yardley schmunzelte. »Ein bestimmter Sakralgegenstand der alten Ägypter besaß in etwa die Form eines griechischen T; in der Fachliteratur wird recht häufig auf ihn Bezug genommen; das macht ihn allerdings noch lange nicht zu einem Tau-Kreuz, das nämlich wiederum ein altes christliches Symbol ist. Es gibt viele Zufälle dieser Art. Beispielsweise wird das Tau-Kreuz auch als Antoniuskreuz bezeichnet -ganz einfach deshalb, weil es den Krücken ähnelt, mit denen der heilige Antonius üblicherweise dargestellt wird. Es ist also im gleichen Maße das Kreuz des heiligen Antonius, wie es das Ihre oder das meine ist.«
»Dann habe ich mich also komplett geirrt und das T ist gar kein ägyptisches Kreuz«, murmelte Ellery leise. »Verdammt! Daß das ausgerechnet mir passieren mußte!«
»Wir alle machen einmal Fehler«, erwiderte der Professor gönnerhaft. »Man muß allerdings fairerweise dazusagen, daß das Kreuz seit Jahrtausenden zu den gebräuchlichsten Symbolen der Menschheit gehört -und von Anbeginn in unzähligen Varianten verwendet worden ist. Ich könnte Ihnen zum Beispiel etliche ausschließlich indianische Beispiele geben, die lange vor der Invasion der Spanier datieren, aber das interessiert uns ja jetzt nicht. Entscheidend aber ist folgendes.« Der Professor kniff ein Auge zusammen. »Wenn es überhaupt ein kruziformes Symbol gibt, das man bei einiger Großzügigkeit als ›Ägyptisches Kreuz‹ bezeichnen könnte, dann ist es das Anch.«