»Das Anch?« Ellery dachte nach. »Vielleicht war es ja das, was ich die ganze Zeit im Kopf hatte. Ist das nicht das T-Kreuz mit dem Kreis obendrauf?«
Yardley schüttelte den Kopf. »Kein Kreis, mein Junge, sondern ein tropfen-oder birnenförmiges Gebilde; das Anch insgesamt ähnelt folglich einem Schlüssel. Man bezeichnet es als crux ansata. Es erscheint sehr häufig in ägyptischen Inschriften und steht für Göttlichkeit oder Königswürde und kurioserweise auch für die Macht, Leben zu erschaffen.«
»Leben zu erschaffen?« Ellerys Blick verriet, daß er etwas ausbrütete. »Guter Gott! Das ist es! Also doch ein ägyptisches Kreuz! Irgend etwas sagt mir, daß wir endgültig auf der richtigen Spur sind!«
»Reden Sie Klartext, junger Mann!«
»Ja, verstehen Sie denn nicht? -Mensch, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!« rief Ellery. »Das Anch-Symbol des Lebens. Aufrecht -der Körper. Der T-Balken -die Arme. Das birnenförmige Dingsbums obendrauf -der Kopf. Und der Kopf ist abgehackt worden! Eins sage ich Ihnen, das hat etwas zu bedeuten! Krosac hat das Symbol des Lebens absichtlich in ein Symbol des Todes verkehrt!«
Der Professor starrte Ellery einen Moment lang an, um dann in minutenlanges Hohngelächter auszubrechen. »Genial, mein Junge, teuflisch genial! Aber meilenweit daneben!«
Ellerys Begeisterung legte sich augenblicklich. »Was stimmt denn jetzt schon wieder nicht?«
»Ihre fantasievolle Theorie zu Krosacs Enthauptungsmotiv wäre allenfalls dann haltbar, wenn das Anch oder die crux ansata die menschliche Gestalt darstellte. Nur ist das leider nicht der Fall, Queen. Der Ursprung des Symbols ist erheblich prosaischer.« Der Professor gab einen Seufzer von sich. »Erinnern Sie sich an die Sandalen, die Stryker trägt? Es handelt sich dabei um Nachahmungen der typischen ägyptischen Fußbekleidung ... Nun, nageln Sie mich bitte nicht darauf fest, ich bin schließlich weder Anthropologe noch Ägyptologe -doch gehen die Experten, denke ich, davon aus, daß das Anch die Riemen solcher Sandalen darstellt, wie
Stryker sie trägt. Die Tropfenform oben käme der Schlaufe um die Knöchel gleich, der Längsbalken dem Riemenstück, das über den Fuß hinweg zwischen der großen Zehe und den anderen verläuft und vorne schließlich mit der Sohle verbunden ist -und der Querbalken den kürzeren Riemen, die zu beiden Seiten des Fußes in die Sohle übergehen.«
Ellery wirkte zutiefst geknickt. »Ich verstehe allerdings immer noch nicht, wie es dazu gekommen sein soll, daß eine Sandale die Erschaffung des Lebens darstellt, nicht einmal in einem übertragenen Sinne.«
Der Professor zuckte die Schultern. »Wort-oder Begriffsursprünge sind dem modernen Verstand nicht immer ohne weiteres zugänglich. Auch aus wissenschaftlicher Sicht ist der Punkt ungeklärt. Da aber das Anch-Zeichen sehr häufig in Wörtern vorkommt, die vom Verbstamm mit der Bedeutung ›leben‹ abgeleitet sind, hat sich das Kreuz allmählich zu einem Symbol für ›leben‹ bzw. ›Leben‹ entwickelt. In einem solchen Maße sogar, daß alle Ägypter das Zeichen als Schmuck trugen, Amulette aus starren Materialien wie Holz, Keramik und dergleichen -obwohl es sich bei dem ursprünglichen Material, aus dem die Sandalenriemen gefertigt waren, um speziell bearbeiteten, biegsamen Papyrus handelte. Es steht jedoch außer Frage, daß das Kreuz selbst niemals die menschliche Gestalt symbolisierte.«
Ellery polierte die beschlagenen Gläser seines Pincenez und sah dabei nachdenklich auf das sonnendurchflutete Wasser. »Nun gut«, seufzte er theatralisch, »geben wir die Anch-Theorie auf ... Sagen Sie, Professor, gab es im alten Ägypten eigentlich Kreuzigungen?«
»Sie geben wohl nie auf, wie? ... Nein, nicht, daß ich wüßte.«
Ellery setzte die Gläser wieder auf seinen Nasenrücken zurück. »Dann müssen wir die ägyptologische Theorie ganz aufgeben Ich zumindest gebe sie auf. Ich habe mir einen
ziemlichen Schuß in den Ofen geleistet, Professor. In letzter Zeit häuft sich das unangenehm. Bin offenbar ein wenig aus der Übung.«
»Halbwissen, mein Junge«, bemerkte der Professor, »ist, wie Pope schon sagte, eine gefährliche Angelegenheit.«
»Es gilt aber auch«, gab Ellery zurück, »faciunt nae intelligendo, ut nihil intelligant ... Gerade indem sie Wissen anhäufen, laufen sie Gefahr, am Ende nichts zu verstehen. Das meine ich natürlich keineswegs persönlich -«
»Natürlich nicht«, erwiderte Yardley gravitätisch. »Genausowenig wie Terenz seinerzeit ... Wie auch immer, meiner Meinung nach haben Sie den Fakten Gewalt angetan, sobald Sie es sich in Ihren sturen Kopf gesetzt hatten, den Fall ägyptologisch anzugehen. Sie hatten immer einen Hang zur Phantasterei, auch im Seminar schon. Als wir einmal die Ausführungen Platons und Herodots zum Ursprung der Atlantissage diskutierten -«
»Wenn ich den großen Gelehrten einmal unterbrechen darf«, fiel ihm Ellery säuerlich ins Wort, »ich versuche mich gerade an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als den Altphilologen herauszuhängen und klug daher zu schwätzen! -Entschuldigen Sie bitte -Wenn also Krosac, indem er seinen Opfern den Kopf abschlug und beide Tatorte mit Ts vollschmierte, ein Kreuzsymbol hinterlassen wollte, dann kann er dabei nicht das Anch-Kreuz, sondern lediglich das Tau-Kreuz im Sinn gehabt haben. Da jedoch das Tau-Kreuz im pharaonischen Ägypten so gut wie keine Bedeutung hatte, ist es unwahrscheinlich, daß Krosac in diese Richtung gedacht hat, obwohl er mit einem Verrückten herumzog, der einem neoägyptischen Kult frönt ... Bestätigung? Ja. Thomas Brad wurde an einen Totemsbaum pardon, Totempfahl festgebunden - ein weiteres religiöses Symbol; doch liegen Welten zwischen Indianern und
Altägypten. Weitere Bestätigung: Hätte Krosac das Anch gemeint, hätte er seine Opfer sicher nicht geköpft ... Wir müssen also die ägyptologische Theorie in Zweifel ziehen; auch für die Totem-Version spricht nichts außer der Tatsache, daß Brads Leiche an einem solchen Pfahl gekreuzigt worden ist der vermutlich allein wegen seiner T-Form dazu herhalten mußte, und nicht obskurer religiöser Beweggründe wegen. Wir können ja nicht einmal die Kreuz-Theorie im allgemeinen Sinne erhärten ... Das Tau-Kreuz im Christentum ... Da mir nicht bekannt ist, daß Märtyrer jemals enthauptet worden wären wieder Fehlanzeige ... Ergo begraben wir am besten alle religiösen Theorien ...«
»Ihr Glaubensbekenntnis«, schmunzelte der Professor, »ähnelt stark dem von Rabelais: Er glaubte an das ›große Vielleicht‹.«
»-und konzentrieren uns auf meine ursprüngliche Annahme«, fuhr Ellery mit einem reumütigen Lächeln fort.
»Und die wäre?«
»Ganz einfach, daß T wahrscheinlich T bedeutet, und nichts sonst. T im alphabetischen Sinne, T, T ...« Plötzlich hielt er inne; der Professor blickte ihn erwartungsvoll an. Ellery starrte in den Pool; seine Augen jedoch sahen nichts Unschuldiges als blaues Wasser und den Sonnenschein.
»Was ist los?« wollte Yardley wissen.
»Wäre das denn möglich?« murmelte Ellery. »Nein ... das wäre zu glatt. Und nicht zu belegen. Obwohl ich ja schon einmal an diese Möglichkeit ...« Ellery verstummte; er hatte nicht einmal Yardleys Frage gehört. Der Professor stöhnte und griff nach seiner Pfeife. Beide schwiegen sie längere Zeit.
So saßen die beiden Männer nun da -zwei halbnackte Gestalten im idyllischen Innenhof der Villa, als plötzlich eine alte Negerin hereintrippelte. Ihr glänzendes schwarzes Gesicht verriet Empörung.