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»Eine Sekunde«, sagte Ellery knapp und zog sein vom eigenen Vater mit viel Spott belegtes Taschenset hervor, entnahm ihm eine lange Nadel und begann, in den Fugen zu beiden Seiten der Taste zu stochern. Einen Augenblick später war zwischen den elfenbeinernen Tasten ein winziges Stück Papier zu sehen.

Alle seufzten im Chor auf, während Ellery das Knäuel herauspräparierte. Das Stück Papier war flach gefaltet und dann zusammengeknüllt worden; Ellery faltete es vorsichtig auseinander und breitete es auf dem Tisch aus.

Megaras Blick blieb unergründlich; die anderen jedoch waren aufs Äußerste überrascht. Nicht einmal Ellery hätte voraussagen können, welch ungewöhnlicher, wild hingekritzelter Appell sich zwischen den Tasten verborgen hatte.

AN DIE POLIZEI:

Sollte mir etwas zustoßen -und ich fürchte aus gutem Grund, daß mir ein Mordanschlag bevorsteht -, ziehen Sie bitte Erkundigungen zu dem Mord an einem Schulmeister aus Arroyo (W. Va.) namens Andrew Van ein, der letzte Weihnachten auf bestialische Weise ermordet worden ist. Man hat ihm den Kopf abgeschlagen und gekreuzigt.

Bitte benachrichtigen Sie sofort Stephen Megara, wo auch immer er sich gerade aufhalten mag, und bitten Sie ihn, umgehend nach Bradwood zurückzukehren.

Sagen Sie ihm, daß er nicht glauben soll, daß Andrew Van tot sei. Nur Stephen Megara weiß, wo er zu finden ist.

Bitte behandeln Sie dieses Schreiben absolut vertraulich, wenn Ihnen das Leben unschuldiger Menschen nicht gleichgültig ist. Unternehmen Sie nichts, bevor Megara Ihnen

mitgeteilt hat, wie Sie vorgehen müssen. Sowohl Van als auch Megara brauchen jeden nur erdenklichen Schutz.

Die Sache ist von solcher Wichtigkeit, daß ich meinen Appell wiederholen muß: Bitte hören Sie auf Megara! Sie haben es mit einem Verbrecher zu tun, der vor rein gar nichts zurückschreckt!

Die Zeilen waren unterschrieben mit der, wie der direkte Vergleich mit anderen Papieren zeigte, unzweifelhaft echten Unterschrift von Thomas Brad.

15. Lazarus

Stephen Megara kochte vor Wut. Die Verwandlung dieses vitalen, selbstbeherrschten Mannes war bestürzend. Das Unfaßbare hatte ihm binnen Sekunden die Maske der Selbstbeherrschung vom Gesicht gerissen; seine Augen, die vor Ungeduld blitzten, wanderten zum Fenster, als sähen sie einen imaginären Velja Krosac hereinklettern; und dann zur Tür, an der ein gleichmütiger Posten lehnte. Er zog eine kompakte Automatic aus der Jackentasche und überprüfte ihre Mechanik mit zitternden Fingern. Er schüttelte sich, ging zur Tür und sperrte die Wache aus. Dann ging er zum Fenster und starrte hinaus. Eine Weile stand er schweigend da, lachte dann kurz und ließ die Automatic in seine Westentasche zurückgleiten.

Isham brummte: »Mr. Megara -«

Der Segler schnellte herum, zu allem bereit. »Tom war ein Schwächling«, sagte er knapp. »Mich kriegt er so nicht!«

»Wo ist Van? Wieso soll er noch am Leben sein? Was soll das Schreiben? Warum -«

»Augenblick, bitte«, unterbrach Ellery. »Nicht so voreilig, Mr. Isham. Wir haben vor dem nächsten Gang noch ordentlich zu kauen ... Es ist jetzt klar, daß Brad diesen Brief an einem unmittelbar zugänglichen Ort plaziert hat -in dem Sekretär oder der Schublade im runden Tisch zum Beispiel -in der Erwartung, daß wir ihn direkt nach dem Mord finden. Auf die Gründlichkeit dieses Krosac, dem ich mit jeder Entdeckung mehr Bewunderung entgegenbringe, war er allerdings nicht gefaßt. Als Krosac Brad nun umgebracht hatte, durchsuchte er anschließend den Raum. Vielleicht ahnte er, daß ein solcher Warnbrief existierte. Wie auch immer, er hat ihn gefunden und gesehen, daß er für ihn harmlos ist-«

»Da kann ich nicht folgen«, sagte Vaughn. »Das ist doch das Letzte, was ein Mörder tun würde -eine Botschaft seines Opfers dazulassen!«

»Es bedarf wirklich keiner besonderen Geistesblitze, Inspector«, erwiderte Ellery trocken, »um zu verstehen, warum Krosac diesen vermeintlichen Fehler eingebaut hat! Wenn die Botschaft eine Gefahr für Krosacs Sicherheit gewesen wäre, hätte er sie sicher vernichtet oder zumindest mitgenommen. Doch ganz im Gegenteil; er hat das Papier nicht nur von der Vernichtung verschont; er hat es auch noch -entgegen aller normalsterblichen Vernunft, wie Sie richtig betonen -am Tatort belassen und damit seinem Opfer zur Erfüllung seines Letzten Willens verholfen.«

»Aber warum?« fragte Isham.

»Warum?« Ellerys schmale Nasenflügel blähten sich furchterregend. »Weil es ihn überhaupt nicht juckte, daß die Polizei den Brief finden würde; o nein, es war sogar von Vorteil für ihn! Hier dringen wir zum Kern des Problems vor: Was genau steht in Brads Mitteilung?« Megaras Schultern zuckten unwillkürlich, und ein finsterer Ausdruck bemächtigte sich seiner Gesichtszüge. »Daß Van noch am Leben ist und nur Stephen Megara weiß, wo wir ihn finden können!«

Professor Yardley machte große Augen. »Dieser Teufel! Er weiß selbst nicht, wo Van steckt.«

»Genau! Krosac muß in Arroyo den falschen Mann erwischt haben. Er glaubte, Andrew Van getötet zu haben; Thomas Brad war der nächste auf seiner Liste. Als er den abgehakt hatte, fand er den Brief. Darin stand, daß Van noch lebte. Wenn er jedoch vor einem halben Jahr ein Motiv hatte, Van aus dem Weg zu räumen, dann hat er es vermutlich noch immer. Wenn Van also noch lebte -und wir den armen Teufel, den er aus Versehen einen Kopf kürzer gemacht hat, einmal vernachlässigen -, mußte Krosac den echten Van ausfindig machen und endgültig erledigen. Wo aber konnte der sein? Daß er untergetaucht war ­die Beine unter die Arme genommen hatte, als er erfuhr, daß ihm Krosac hinterher war und sogar bereits einen anderen Mann irrtümlich umgebracht hatte -, verstand sich von selbst.«

Ellery fuchtelte mit dem Zeigefinger.

»Vergegenwärtigen wir uns das Problem, vor dem Krosac stand. Dem Brief war nicht zu entnehmen, wo Van sich aufhält. Es stand jedoch darin, daß nur eine einzige Person Vans Versteck kennt - Megara ...«

»Moment, bitte«, sagte Isham. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Aber warum zum Henker hat Krosac den Brief nicht vernichtet und einfach Megaras Ankunft abgewartet. Megara hätte uns verraten, wo Van steckt; und Krosac hätte es ­wie Sie sicher vermuten -über uns irgendwie herausbekommen.«

»Oberflächlich betrachtet ein kluger Einwand! Leider aber vollkommen überflüssig.« Ellery zündete sich mit leicht zitternden Fingern eine Zigarette an. »Sehen Sie denn nicht? Wenn es keinen Brief gegeben hätte, wäre Megara nie auf den Gedanken gekommen, Vans Tod anzuzweifeln! Oder hätte es dazu Anlaß gegeben, Mr. Megara?«

»Hätte es. Aber Krosac konnte das nicht wissen.« Megaras asketischer Charakter und seine Willenskraft schwangen sogar in seiner Stimme mit.

Ellery war perplex. »Das verstehe ich jetzt nicht ... Krosac wußte es nicht? Aber zumindest ist meine These belegt. Wenn Krosac den Brief der Polizei überlassen hätte -bei der ersten Durchsuchung schon, meine ich, mit der Folge, daß die Bibliothek sehr bald nach der Entdeckung der Leiche als wahrer Tatort festgestanden hätte -, wäre sofort eine Großfahndung nach Van eingeleitet worden. Krosac selbst suchte Van auch; hätte in diesem Fall jedoch mit der Polizei um die Wette suchen müssen, ohne sich dabei verdächtig zu machen, was seine eigenen Nachforschungen zu stark behindert hätte! Indem Krosac jedoch die Auffindung des Briefes hinauszögerte, schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens konnte er im Zeitintervall zwischen dem Mord und der Ankunft von Mr. Megara ungestört nach Van suchen; den die Polizei - noch nicht im Besitz des Briefes -für mausetot hielt. Zweitens: War es Krosac in der Zwischenzeit nicht gelungen, Van aufzuspüren, hatte er nichts dabei verloren; denn sobald Mr. Megara hier auftauchte, würde er die Pfeife identifizieren, damit neue Ermittlungen auslösen -wie geschehen -, die schließlich ergäben, daß der Mord in Wirklichkeit in der Bibliothek stattgefunden hat. Der Raum würde gründlich gefilzt werden, der Brief gefunden; Megara erführe, daß Van noch lebt, und würde der Polizei seinen Aufenthaltsort verraten ... Krosac brauchte sich nur noch an uns dranzuhängen, um herauszufinden, wo Van sich versteckt!«