Ellery war raffiniert vorgegangen: Am späten Freitag abend, als die Dunkelheit Bradwood längst umfangen hatte, war Ellery in seinen Duesenberg geklettert, hatte das Anwesen des Professors verlassen und war, nahezu ohne Gas zu geben, durch die nächtliche Landschaft gehuscht. Schließlich war er -mit dem Fuß auf dem Gaspedal -in die Schnellstraße nach Mineola eingebogen. In der Stadt stieg Isham zu, und sie rasten Richtung New York.
Um vier Uhr morgens waren sie bereits in der Hauptstadt von Pennsylvania. Harrisburg lag in tiefem Schlummer, und die beiden Reisenden waren so erschöpft, daß sie, ohne sich lange zu beraten, beim Senate-Hotel haltmachten und sich schweigend in ihre Zimmer zurückzogen. Ellery hatte den Weckdienst für neun Uhr bestellt. Sie fielen in ihre Betten und schliefen wie Tote.
Um halb zehn am Samstag morgen hatten sie Harrisburg längst hinter sich gelassen und waren auf dem Weg nach Pittsburgh. Auf eine Mittagspause verzichteten sie. Der Sportwagen war mittlerweile von Staub bedeckt, und auch die beiden Männer hatte die Gewalttour sichtlich mitgenommen. Immerhin ließ sich der Duesenberg zu in seinem Alter nicht mehr ganz selbstverständlichen Höchstleistungen anspornen; zweimal wurden sie von Polizei auf Motorrädern verfolgt, während sie mit über hundert Sachen über den Asphalt bretterten. Isham präsentierte seinen Ausweis, und sie rasten weiter ... Um drei Uhr nachmittags steckten sie im dichten Verkehr von Pittsburgh.
»Das hält ja kein Pferd aus!« nölte Isham. »Der läuft uns doch nicht weg! Sie können ja ruhig weiterhungern; aber ich muß unbedingt was zwischen die Zähne kriegen!«
Während der Staatsanwalt sich den Magen vollschlug, verloren sie wertvolle Zeit. Ellery hatte eine seltsame Erregung erfaßt. Er stocherte lustlos in seinem Essen herum, sah blaß und übernächtigt aus; doch seine Augen funkelten unnatürlich wach - ganz so, als hinge er Gedanken nach, die er vorläufig lieber für sich behielt.
Kurz vor fünf parkte der Duesenberg vor der Holzfassade, hinter der die würdigen Lenker der Geschicke von Arroyo residierten.
Als Ellery und Isham dem Wagen entstiegen, knirschten ihre Gelenke förmlich. Isham streckte sich ausgiebig, ohne die neugierigen Blicke zu bemerken, mit denen ihn ein beleibter Deutscher -in dem Ellery den ehrenwerten Bernheim, den Gemischtwarenhändler von Arroyo, wiedererkannte -und jener Einheimische im blauen Jeansanzug, der nie etwas anderes zu tun schien, als den Bürgersteig vor dem Rathaus zu kehren, musterten. Isham gähnte: »Am besten, wir bringen das gleich hinter uns. Wo sitzt der zuständige Constable, Mr. Queen?«
Ellery führte Isham zum hinteren Teil des Gebäudes, in dem sich die Amtsstube des Wachtmeisters befand, und klopfte an die Tür. »Kommense schon rein, wenn‘s unbedingt sein muß!« brummte eine rauchige Baßstimme.
Sie traten ein. Constable Luden hing genauso massig und verschwitzt über seinem Schreibtisch wie vor einem halben Jahr; Ellery fragte sich im stillen, ob es wohl möglich war, daß er sich seither nicht vom Fleck bewegt hatte. Als der Constable den Unterkiefer fallenließ, kamen die stumpfen gelben Hauer in seinem aufgedunsenen roten Gesicht zum Vorschein.
»Ich denk‘, mich tritt‘n Pferd!« rief er und stand polternd auf. »Wenn das nich‘ Mr. Queen is‘! Kommense rein, kommense! Sindse immer noch dem Kerl hinterher, der unsern Lehrer auf’m Gewissen hat?«
»Genau dem sind wir auf den Fersen, Constable«, schmunzelte Ellery. »Das ist ein Kollege von Ihnen. Darf ich vorstellen: Bezirksstaatsanwalt Isham von Nassau County, New York.«
Isham grunzte kurz, bot Luden jedoch nicht die Hand. Der
Constable setzte ein breites Grinsen auf. »Im letzten Jahr hatten wir öfter ma‘ hohen Besuch, Mister. Se können die Nase also ruhig wieder runternehm‘, haha.« Isham schien seinen Ohren nicht zu trauen. »Ja, is‘ doch wahr ... Also, was kann ich für Sie tun, Mr. Queen?«
»Dürften wir uns vielleicht erst einmal setzen? Wir sind seit Jahrhunderten mit dem Wagen unterwegs.«
»Klar doch.«
Sie nahmen Platz.
»Constable, sind Sie eigentlich diesem Bergmenschen namens Old Pete in letzter Zeit einmal begegnet?«
»Ol‘ Pete? -Wo Se das jetz‘ so fragen, ehrlich gesagt, nee«, antwortete Luden und warf Isham einen spöttischen Blick zu. »Ich hab‘ den Alten seit Wochen nich‘ geseh‘n. Kommt zwar nich‘ oft in die Stadt rein, der Alte, mein ich‘, aber ... Nee, also, kommt mir so vor, als hätt‘ ich den minnestens zwei Monate nich‘ geseh‘n. Hat sich das letzte Mal, als er vom Berg runter is‘, auch ziemlich mit Vorräten eingedeckt. Aber da fragense besser Bernheim.«
»Wissen Sie zufällig«, fragte Isham, »wo sich seine Hütte genau befindet?«
»Könnte schon sein ... Aber warum interessieren Se sich so für Ol‘ Pete? Den wollnse doch wohl nich‘ verhaften, den armen Schlucker! Nich‘, daß mich das was anginge«, fügte Luden hinzu, als Isham die Stirn runzelte. »Bin noch nie da droben gewesen. Kenn‘ auch sonst kaum ein‘ aus der Umgebung, der ma‘ zu ihm rauf wär‘. Die Leute erzähl‘n sich Gruselgeschichten von Höhlenmenschen, weil‘s da droben in den Bergen viele Höhlen gibt ... Ol‘ Petes Hütte liegt so versteckt, dasse die nie alleine finden.«
»Würden Sie uns den Weg zeigen, Constable?« fragte Ellery.
»Klaro. Wär‘ doch gelacht, wenn ich die nich‘ fänd.« Luden stand auf und schüttelte sich wie ein fetter alter Kettenhund.
»Ich nehme an, Se wolln nich‘, daß die ganze Stadt davon erfährt?« fragte er beiläufig.
»Um Himmels willen, nein!« antwortete Isham gereizt. »Verraten Sie auch Ihrer Frau nichts davon!«
Der Constable grunzte amüsiert. »Worauf Se sich verlassen könn‘. Ich hab‘ nämlich keine. Werd‘ ich dem Herrgott auch ewig dankbar für sein ... Na, denn ma‘ los.«
Er geleitete seine Besucher jedoch nicht zum Haupteingang zurück, vor dem der Duesenberg parkte, sondern führte sie durch eine Hintertür auf eine verlassene Nebenstraße. Luden und Isham warteten, während Ellery geschwind um das Gebäude herumlief und in den Duesenberg sprang. Zwei Minuten später hielt der Wagen in der Seitenstraße und hinterließ, sobald er seine lebende Fracht geladen hatte, nichts als eine Staubwolke. Luden hatte damit vorliebnehmen müssen, Trittbrettfahrer zu spielen.
Der Constable dirigierte sie über mehrere Umwege zu einer schlammigen Straße, die ins Herz der unmittelbar vor ihnen aufragenden Berge vordrang. »Hier wird die Straße schlechter«, erklärte er. »Parkense am besten hier, den Rest machen wir zu Fuß.«
»Zu Fuß?« fragte Isham, während er den steilen Aufstieg ins Auge faßte.
»Keine Bange«, grinste Luden. »Ich trag‘ Sie, wennse nich‘ mehr können.«
Den Wagen ließen sie -hinter Buschwerk getarnt -zurück. Der Staatsanwalt sah sich um und bückte sich noch einmal, um etwas aus dem Wagen zu holen. Es war ein eingewickeltes Bündel, das Luden mit unverhohlener Neugier betrachtete; doch keiner der beiden ließ sich dazu herab, den Gegenstand zu kommentieren.
Der Constable begann, sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen, wobei er den Blick auf Bodenhöhe hielt; er schien jedoch nicht sonderlich bei der Sache zu sein, bis er einen zugewucherten Fußweg ausgemacht hatte. Ellery und Isham trotteten schweigend hinter ihm her. Sie stiegen höher und höher; keine Menschenseele schien dieses Stück Erde je zuvor betreten zu haben. Die Bäume waren so hoch, daß ihre Kronen Dächer bildeten und den Himmel vollständig verdeckten; die Luft war so schwül, daß alle drei Männer bereits naßgeschwitzt waren, als sie gerade einmal hundertfünfzig Meter Aufstieg hinter sich hatten. Isham begann leise vor sich hin zu fluchen.