Nach einer Viertelstunde Schinderei, in der der Weg immer schmaler und der Wald immer dichter geworden war, blieb der Constable plötzlich stehen.
»Matt Hollis hat mir den Weg ma‘ erklärt«, flüsterte er. »Da ungefähr musse sein!«
Vorsichtig arbeiteten sie sich weiter vorwärts, während Luden Anweisungen gab. Und -wie der gute Constable prophezeit hatte - da stand sie ... Auf einer kleinen Lichtung, die unter einer massiven Felsnase gelegen war, stand eine Hütte aus rohen Baumstämmen. Knapp zehn Meter breit war die Schneise, die ihr Bewohner vorne und seitlich der Hütte in den Wald geschlagen hatte. Mit der Rückseite lehnte sie an der vorgewölbten Granitwand. Ellery traute seinen Augen kaum: Das so freigeschlagene Grundstück war vollständig mit einem hohen, mehrfach gewundenen, verrosteten und äußerst bedrohlich wirkenden Stacheldraht eingezäunt.
»Jetzt schauen Sie sich das mal an!« flüsterte Isham. »Ein Zaun ohne Eingang!«
Tatsächlich wies der Drahtzaun keinerlei Unterbrechung seiner gleichmäßigen Stachelbewehrung auf. Die Hütte innerhalb der Festung wirkte ebenfalls wenig einladend, und selbst die Rauchfahne, die sich aus dem Kamin schlängelte, wirkte düster.
»Menschenskind!« murmelte Luden. »Warum hatter sich
bloß so verbarrikadiert? Muß endgültig durchgedreht sein; sag‘ ich doch immer.«
»Hier möcht‘ ich wahrhaftig keinem im Dunkeln begegnen«, murmelte Ellery. »Constable, wir müssen eine ungewöhnliche Bitte an Sie richten.«
Luden, der vielleicht witterte, daß dies seine letzte Begegnung mit dem berühmten Ellery Queen war, wurde servil. »Also, was das angeht«, brummte er, »kümmer‘ ich mich sowieso nur um mein‘ eig‘nen Kram und schweige außerdem wie‘n Grab. Muß ma‘ in der Gegend können. Gibt etliche Schwarzbrennereien innen Bergen hier. Aber da halt‘ ich mich raus, is‘ deren Sache. Also Sir - womit kann ich Ihnen dienen?«
»Vergessen Sie unseren kleinen Ausflug«, erwiderte Isham. »Wir sind nie hiergewesen, klar? Und davon erfährt auch keiner der Kollegen in Hancock County! Den Namen Old Pete haben Sie nie gehört.«
Ludens Pranke grapschte nach einem Stück Papier, das Ellery aus seiner Brieftasche gezogen hatte.
»Mr. Isham«, sagte er feierlich. »Von jetz‘ an bin ich blind, taub und stumm. Sie finden alleine zurück?«
»Ja.«
»Dann Waidmanns Heil -und herzlichen Dank auch, Mr. Queen.«
Luden drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand im Wald, ohne sich noch einmal umzusehen.
Isham und Ellery tauschten kurz Blicke, bevor sie ihre Deckung verließen und sich auf die Lichtung wagten.
Kaum hatten sie sich an den Zaun herangeschlichen -Isham war gerade im Begriff, das Bündel, das sie mit sich führten, über die höchste Stachelspitze zu heben -, als eine rauhe, gebrochene Stimme aus dem Innern der Hütte brüllte: »Halt! Zurück!«
Sie hielten inne; das Bündel fiel zu Boden. Aus dem einzigen Fenster der Hütte -das ebenfalls mit Stacheldraht geschützt war, lugte der Lauf einer Schrotflinte, der direkt auf die beiden Eindringlinge gerichtet war. Es folgte nicht etwa nervöses Gefuchtel; nein, die häßliche Szenerie blieb seltsam unbewegt. Offenbar war der Lauf der Waffe bereit zu halten, was er versprach.
Ellery schluckte, und der Staatsanwalt erstarrte förmlich zur Säule. »Das ist Old Pete«, flüsterte Ellery. »Was an dem für ein Schauspieler verlorengegangen ist!« Er lugte über den Zaun hinweg und brüllte: »Nehmen Sie bitte einen Augenblick lang den Finger vom Abzug. Wir sind Freunde!«
Stille. Der Besitzer der Schrotflinte begutachtete seine Besucher, die ruhig dastanden.
Dann ertönte die rauhe Stimme erneut: »Ich glaub‘ Ihn‘ kein Wort! Weg hier! Ich schieße, wenn Sie nich‘ in fünf Sekunden die fliege machen! «
Isham brüllte zurück: »Wir sind von der Polizei, Sie Idiot! Wir haben einen Brief für Sie dabei - von Megara! Und lassen Sie die Zicken! Es ist schließlich Ihretwegen, daß wir hier nicht gesehen werden wollen!«
Der Flintenlauf bewegte sich nicht; dafür aber erschien das zugewachsene Gesicht des Alten hinter dem Stacheldraht, und ein Paar klare Augen beäugten sie mißtrauisch. Die Unentschlossenheit des Mannes war förmlich zu riechen. Kurz darauf verschwanden Kopf und Flintenlauf plötzlich. Einen Augenblick später rüttelte es an der zugenagelten, schweren Tür, und ein bärtiger, ungewaschener, in Lumpen gehüllter Old Pete trat ins Freie. Die Schrotflinte hielt er gesenkt, doch war ihr Lauf noch immer auf die Eindringlinge gerichtet.
»Klettern Sie über‘n Zaun; ‘nen Eingang gibt‘s nich‘.« Die Stimme war dieselbe; aber es schwang ein neuer Ton darin mit.
Nachdem sie eine Weile bestürzt auf den Zaun gestarrt hatten, hob Ellery äußerst vorsichtig eines seiner langen Beine, trat mit dem Fuß den untersten Draht herunter und suchte zaghaft nach einer Möglichkeit, sich festzuhalten.
»Machense schon!« brüllte Old Pete ungeduldig. »Und keine Tricks!«
Isham suchte den Waldboden nach einem Stock ab; schließlich fand er einen, spreizte damit die beiden untersten Drahtstränge auseinander; und Ellery konnte durchkriechen, nicht allerdings, ohne hängenzubleiben und sich die Schulter seines Anzugs aufzureißen. Unbeholfen folgte der Staatsanwalt nach. Keiner sagte ein Wort, denn der Flintenlauf war noch immer auf die ungebetenen Gäste gerichtet.
Sie spurteten auf den Alten los und verschwanden mit Old Pete in der Hütte. Isham warf die schwere Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Die Behausung war äußerst primitiv, aber mit Bedacht eingerichtet worden. Den Felsboden bedeckten Strohmatten. In einer Ecke befand sich ein gut gefülltes Vorratslager; und neben dem Feuerplatz war Brennholz aufgeschichtet. Eine bassinähnliche Einrichtung an der Hinterwand der Hütte -genau gegenüber der Tür -diente offenbar als Waschgelegenheit; darüber war ein Regal angebracht, auf dem diverse Medizinfläschchen standen. Direkt über dem Becken befand sich eine kleine Handpumpe; der Brunnen lag offenbar direkt darunter.
»Den Brief!« befahl Old Pete harsch.
Isham zog ein Stück Papier hervor. Der Bergmensch hielt die Waffe noch immer so, daß die Mündung direkt auf seine Besucher zielte. Er las die Nachricht in Etappen, um sie im Auge zu behalten; nie schaute er länger als ein paar Sekunden auf das Papier. Während er las, veränderte sich jedoch sein Gebaren so sehr, daß nur noch der Bart und die zerlumpten Kleider an Old Pete erinnerten. Er lehnte die Flinte langsam gegen den Tisch und setzte sich. Den Brief hielt er noch immer in Händen.
»Dann ist Tomislav also tot«, sagte er. Seine Gäste erschraken, so verwandelt klang seine Stimme. Das hohe Krächzen des alten Einsiedlers war einem tiefen, ruhigen Bariton gewichen - der Stimme eines gebildeten Mannes in der Blüte seiner Jahre.
»Ja, ermordet«, erwiderte Isham. »Er hat eine Nachricht hinterlassen, die Sie ebenfalls lesen sollten.«
»Ich bitte darum.« Er nahm Isham den Brief aus der Hand und las ihn schnell herunter, ohne Regungen zu zeigen. Dann nickte er. »Verstehe ... Nun, meine Herren, hier bin ich. Andrew Van, vormals Andreja Tvar. Und noch immer am Leben, während Tom, der alte Sturkopf -«
Seine Augen blitzten kurz, dann sprang er auf und lief zum Waschbecken. Ellery und Isham tauschten Blicke. Ein seltsamer Vogel, dieser Mann! Van riß sich den Rauschebart ab, nahm die verfilzte weiße Perücke ab und wusch sich den Klebstoff vom Gesicht ... Als er zurückkam, war er nicht mehr als der alte Kauz wiederzuerkennen, der sie noch Minuten zuvor mit der Flinte bedroht hatte; er war groß, hielt sich sehr gerade, hatte dichtes dunkles Haar und das von Entbehrungen gezeichnete Gesicht eines Asketen. Die Lumpen hingen von seinem kraftvollen Körper herab, dachte Ellery -»unpassend, völlig daneben und wie ausgerenkt«, wie Rabelais es ausgedrückt hatte. »Es tut mir leid, Gentlemen, daß ich nur einen Stuhl habe. Sie sind Staatsanwalt Isham, nehme ich an, und Sie ... Ich meine, mich zu erinnern, daß Sie, Mr. Queen, am Verhandlungstag im Gerichtssaal von Weirton in der ersten Reihe gesessen haben.«