»Was hat er, Doktor?« fragte Ellery.
»Hernia testis«, erwiderte Dr. Temple. »Kein ganz unkomplizierter Fall. Aber wir brauchen uns im Augenblick keine Sorgen zu machen. Ich habe ihm etwas gegen die Schmerzen gegeben; die Wirkung wird er gleich spüren.«
»Hab‘ ich mir auf dieser verdammten letzten Fahrt eingehandelt«, keuchte Megara. »Ich danke Ihnen Doktor, es geht schon besser. Bitte lassen Sie uns jetzt allein. Die Herren möchten etwas mit mir besprechen.«
Temple sah ihn einen Moment lang verständnislos an, zuckte dann mit den Schultern und nahm seine Arzttasche. »Wie Sie
wünschen Aber bitte unterschätzen Sie die Sache nicht; Sie sollten sich in jedem Fall operieren lassen, wenn auch nicht unbedingt sofort.«
Er verbeugte sich steif und verließ unverzüglich den Raum. Der Inspector folgte ihm und kehrte nicht wieder, ehe Dr. Temple in seinem Motorboot aufs Festland zu steuerte.
Vaughn schloß leise die Kabinentür hinter sich. Zwei Polizisten lehnten sich von außen mit dem Rücken dagegen.
Der dritte machte nun einen Schritt vorwärts und sah sich nervös um. Der Mann in der Koje zupfte an seinem Tuch.
Schweigend sahen sie einander an. Die Hand gaben sie sich nicht.
»Stefan«, brachte der Lehrer hervor.
»Andreja.«
Ellery hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken; der Situation haftete etwas Groteskes an, so tragisch sie auch sein mochte. Diese beiden gepflegten, stolzen Männer mit den ausländischen Namen -die Jacht, das Krankenlager, die graue Uniform ... Etwas Ähnliches war Ellery trotz seiner reichen Erfahrung noch nie begegnet.
»Krosac. Krosac, Andreja«, stammelte der kranke Mann. »Er hat uns gefunden, wie du immer prophezeit hast.«
Andreja Tvar entgegnete schroff: »Wenn Tom auf meinen Rat gehört hätte ... Ich habe ihn letzten Dezember per Brief gewarnt. Hat er sich nicht mit dir in Verbindung gesetzt?«
Stefan schüttelte wie in Trance den Kopf. »Nein, er wußte nicht, wo er nach mir suchen sollte. Ich bin kreuz und quer über den Pazifik gesegelt ... Wie geht es dir, Andreja?«
»Soweit gut. Wie lange ist es jetzt her?«
»Jahre ... Fünf - sechs?«
Sie verstummten wieder. Der Inspector beobachtete die beiden aufmerksam; Isham wagte kaum noch zu atmen. Dann warf der Professor Ellery einen Blick zu, und Ellery drängte:
»Die Geschichte, bitte, Gentlemen, die Geschichte. Mr. -Van ...« -er zeigte auf den Schulmeister -»muß Bradwood so schnell wie möglich wieder verlassen. Jede Sekunde, die er sich hier aufhält, verschärft die Gefahr. Krosac -wer immer er auch sein mag -ist verdammt clever. Niemand weiß, ob er auf unsere kleine Modenschau wirklich hereinfällt; und wir müssen um jeden Preis verhindern, daß er Mr. Van nach West Virginia folgt.«
»Ja«, sagte Van schwerfällig. »Da haben Sie recht. Stefan, erzähl es Ihnen.«
Der Segler streckte sich auf seinem Lager aus, als hätten die Schmerzen plötzlich nachgelassen -oder als hätte er sie vor Aufregung vergessen -, und starrte an die niedrige Kabinendecke. »Wo beginne ich da am besten? Es ist alles so verdammt lang her. Tomislav, Andreja und ich waren die letzten Abkömmlinge des stolzen Tvar-Clans, einer wohlhabenden Familie, die in den Bergen Montenegros ansässig war.«
»Und lange ausgelöscht ist«, fügte Van mit eisiger Stimme hinzu.
Der kranke Mann winkte ab, als sei das nebensächlich. »Sie müssen verstehen. Auf dem Balkan sind die Menschen ausgesprochen heißblütig. Das Blut unserer Familie war so heiß, daß es leicht kochte.« Megara lachte kurz. »Unsere Erbfeinde waren die Krosacs, ein anderer Clan. Seit Generationen -«
»Eine Vendetta!« rief Yardley. »Natürlich keine italienische aber doch so etwas wie eine Blutfehde. Das Phänomen tritt ja auch bei uns auf, zum Beispiel gibt es in den Bergen von Kentucky solche Fehden. Da hätte ich mal eher dran denken sollen.«
»Ja.« Megaras Stimme wurde schneidend. »Wir wissen bis heute nicht, was der ursprüngliche Anlaß dazu gewesen ist. Wir steckten so tief im blutigen Sumpf, daß unsere Generation gar nicht mehr danach fragte. Denn man hatte uns von Kindesbeinen an eingetrichtert -«
»Vernichtet die Krosacs!« krächzte Van.
»Wir sind die Angreifer gewesen«, fuhr Megara fort. »Dem fanatischen Blutdurst unseres Großvaters und Vaters war es zu verdanken, daß vor zwanzig Jahren nur noch ein männlicher Krosac am Leben war -Velja, der Mann, den Sie suchen ... Damals war er noch ein Kind. Er und seine Mutter waren die einzigen Überlebenden des gesamten Krosac-Clans.«
»Wie im tiefsten Mittelalter«, murmelte Van. »Absolut barbarisch! Du, Tomislav und ich haben den Mord an Vater gerächt, indem wir Krosacs Vater und zwei Onkeln aufgelauert sind und sie in einem Hinterhalt erschlagen haben ... «
»Unfaßbar!« flüsterte Ellery dem Professor zu. »Man möchte ja kaum glauben, daß man es mit zivilisierten Menschen zu tun hat.«
»Was ist aus dem Bengel, aus diesem Krosac, geworden?« fragte Isham.
»Seine Mutter ist mit ihm nach Italien geflohen und hat sich dort versteckt. Kurze Zeit später ist sie gestorben.«
»Und auf Krosac lastete der Fluch, seine Familie rächen zu müssen«, ergänzte Vaughn nachdenklich. »Bestimmt hat ihn seine Mutter noch einmal so richtig auf seine Mission eingeschworen, bevor sie starb. Sie haben die Spur des Jungen verfolgt?«
»Ja. Das mußten wir allein schon aus Selbstschutz tun. Wir wußten ja, daß er für uns eine tödliche Gefahr darstellte, sobald er erwachsen war. Die Agenten, die wir dafür bezahlten, haben ihn an mehreren Orten Europas aufgespürt; bevor er siebzehn wurde, ist er allerdings plötzlich verschwunden, und wir haben nie wieder etwas von ihm gehört - bis jetzt.«
»Sie selbst haben Krosac nie mehr gesehen?«
»Nein. Jedenfalls nicht mehr, seit er unsere alte Heimat verlassen hat. Damals war er elf oder zwölf Jahre alt.«
»Augenblick mal«, bat Ellery und legte die Stirn in Falten. »Was macht Sie eigentlich so sicher, daß Krosac Ihnen nach dem Leben trachtet? Denn - immerhin - ein Kind ...«
»Was uns so sicher macht?« Andrew Van lächelte verbittert. »Einer unserer Agenten hat es geschafft, sich das Vertrauen des Kindes zu erschleichen, während wir den Jungen beschatten ließen, und hat mit eigenen Ohren gehört, wie er bei allen Heiligen schwor, daß er uns auslöschen würde, auch wenn er uns dafür bis ans Ende der Welt verfolgen müßte.«
»Sie wollen uns im Ernst weismachen«, fragte Isham irritiert, »daß Sie nur wegen der Phantastereien eines Kindes Ihre Namen geändert haben und nach Amerika geflohen sind?«
Beiden Männern stieg die Röte ins Gesicht. »Sie haben keine Ahnung von kroatischen Familienfehden«, murmelte Megara und wich allen Blicken aus. »Vor Generationen ist ein Krosac sogar einmal einem Tvar in die Wüsten des südlichen Arabiens gefolgt ...«
»Auf alle Fälle würden Sie also Krosac nicht einmal dann erkennen, wenn Sie ihm Auge in Auge gegenüberständen?« fragte Ellery.
»Nein, das ist es ja ... Wir drei waren die letzten der Familie; Vater und Mutter waren tot. Da haben wir beschlossen, nach Amerika auszuwandern. Wir waren frei; nichts band uns mehr an die Heimat. Andrew und ich waren unverheiratet, und Toms Frau war nach kurzer, kinderloser Ehe gestorben. Wir verkauften unser stattliches Erbe -riesige Güter und unsere gesamte Habe -und wanderten unter falschen Namen getrennt voneinander nach Amerika aus. Vorher hatten wir abgemacht, uns in New York zu treffen. Wir hatten ebenso abgemacht, drei verschiedene Staatsangehörigkeiten vorzutäuschen.« -Ellery fuhr zusammen, dann lächelte er. -»Unsere Namen haben wir sicherheitshalber aus dem Atlas gepickt. Von da an war ich Grieche, Tom Rumäne und Andrew Armenier; wir hätten damals unmöglich als gebürtige Amerikaner durchgehen können; man sah einfach, daß wir aus Südosteuropa stammten. Außerdem konnten wir kaum Englisch.«