»Ich habe euch immer davor gewarnt, Krosac zu vergessen«, warf der Schulmeister düster ein.
»Tom und ich -wir hatten alle eine hervorragende Erziehung genossen -haben uns sofort daran gemacht, ein Unternehmen aufzubauen. Unser Andrew hier war jedoch schon als Kind ruhelos gewesen, ein Einzelgänger; so zog er es vor, sich die Landessprache allein beizubringen und Lehrer zu werden. Alle drei haben wir natürlich die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen, wurden langsam zu Amerikanern und waren, während die Jahre so dahingingen, dabei, Krosac zu vergessen, zumal wir nie wieder etwas von ihm oder über ihn gehört hatten. Zumindest für Tom und mich wurde er zur Legende, zum Mythos. Wir hielten ihn für tot oder wähnten ihn auf der hoffnungslos falschen Fährte.« Megara preßte die Kiefer aufeinander. »Wenn wir nur gewußt hätten ... Wie auch immer, Tom hat bald geheiratet, das Geschäft lief hervorragend, und Andrew ging nach Arroyo.«
»Wenn ihr nur auf mich gehört hättet«, zischte Van, »wäre es nie soweit gekommen, und Tom wäre heute noch am Leben. Ich habe euch immer wieder prophezeit, daß Krosac uns früher oder später finden und Rache nehmen würde!«
»Andr‘, bitte.« Megaras Stimme klang kalt und ungerührt; jedoch in seinen Augen flammte so etwas wie Mitleid auf, als er seinen Bruder ansah. »Ich weiß doch. Und wir haben uns nur noch selten gesehen, was du aber, wie du zugeben mußt, nicht anders gewollt hast. Wenn du ein bißchen mehr Familiensinn gehabt hättest ...«
»Dann wäre ich bei euch geblieben, damit Krosac uns alle drei auf einen Streich auslöschen konnte?« brüllte Van aufgebracht. »Warum habe ich mich wohl in dem Loch verkrochen? Ich hänge auch am Leben, Stephen, und ich war etwas klüger als ihr -«
»So klug nun auch wieder nicht, Andr‘«, sagte Megara barsch. »Immerhin hat Krosac dich zuerst gefunden. Und -«
»Allerdings«, sagte der Inspector unvermittelt. »Das hat er wohl. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Van, lassen Sie uns erst einmal die genauen Umstände des Arroyo-Mordes klären.«
Der Schulmeister schloß, von Erinnerungen überwältigt, die Augen. »Arroyo«, begann er heiser, »war von Anfang an ein Ort des Grauens. Das Leben in ständiger Angst trieb mich vor Jahren dazu, mir eine Geheimidentität -Old Pete -zuzulegen, hinter der ich mich verbergen konnte, falls es Krosac gelingen sollte«, er öffnete die Augen und schnaubte verächtlich, »mich zu finden. Ich habe mir dann diese verlassene Berghütte eingerichtet, die ich bei einer Höhlenwanderung zufällig entdeckt hatte, sie mit Stacheldraht eingezäunt und mir in Pittsburgh die Verkleidungsutensilien gekauft. Wenn ich als Lehrer Ferien hatte oder nicht viel zu tun war, bin ich heimlich zur Hütte hochgestiegen, habe mich als Old Pete verkleidet und bin durch die Straßen von Arroyo geschlendert, um mich in dieser Rolle den Leuten ins Gedächtnis einzuprägen. Tom und Stephen hatten dafür nur Spott übrig und erklärten mich für kindisch. War ich kindisch, Stephen? Oder denkst du da nicht inzwischen anders drüber? Denkst du nicht vielleicht auch, daß Tom in seiner Gruft zutiefst bedauert, daß er meinem Beispiel nicht gefolgt ist?«
»Ist ja gut, Andr‘«, beschwichtigte Megara. »Schweif nicht ab. Erzähl, was passiert ist.«
Der exzentrische Lehrer drehte mit den Händen auf dem Rücken seiner geborgten Uniform eine Runde durch die Kabine ... und erzählte dann eine abenteuerliche Geschichte.
Als das Weihnachtsfest nahte -begann er mit der durchdringenden Stimme, die so typisch für ihn war-, fiel ihm plötzlich auf, daß er über zwei Monate nicht mehr als Old Pete in der Stadt gewesen war. Eine solche lange Abwesenheit mochte jedoch ein paar Einheimische -Constable Luden etwa dazu veranlassen, nach dem alten Einsiedler zu suchen und seine Hütte zu durchforsten, was für ihn fatale Folgen gehabt hätte. Alles wäre aufgeflogen ... Zwischen Weihnachten und Neujahr konnte er seine winzige Dorfschule endlich über eine Woche schließen, um wenigstens einige Tage lang als Lumpenmann durch Arroyo zu schlendern. Bei früheren Gelegenheiten hatte er vor seinen Ausflügen ins Eremitendasein immer verlauten lassen, er werde übers Wochenende verreisen.
»Wie haben Sie denn Kling, Ihrem Hausangestellten, Ihre wiederholte Abwesenheit erklärt?« fragte Ellery. »Oder war er eingeweiht?«
»Himmel, nein! Er war strohdumm, halb schwachsinnig eben. Ich habe ihm bloß gesagt, ich führe nach Wheeling oder Pittsburgh.«
An Heiligabend erklärte er Kling, er werde die Festtage in Pittsburgh verbringen, und machte sich auf den Weg zu seiner Hütte, in der er sein Lumpenkostüm aufbewahrte, und verwandelte sich in Old Pete. Am nächsten Morgen -dem Weihnachtsmorgen -war er sehr früh aufgestanden und hinunter nach Arroyo getrottet, um seine leere Speisekammer aufzufüllen. Er wußte, daß er sich bei Bernheim eindecken konnte, obwohl sein Laden über die Festtage eigentlich geschlossen war. Als er an der einschlägigen Kreuzung anlangte, machte er – allein, um halb sieben in der Frühe -die grausige Entdeckung der gekreuzigten Leiche, begriff sofort, was die diversen Ts zu bedeuten hatten, und rannte die gut hundert Meter zu seinem Haus. Das Schlachtfeld, das der Mörder zur allgemeinen Ansicht hinterlassen hatte, jagte ihm
einen Schauer über den Rücken; ihm war allzu klar, daß Krosac aus schierem Zufall in der Nacht zuvor bei ihm aufgetaucht war, den armen Kling -in der Meinung, er sei Andreja Tvar niedergemacht, ihm den Kopf abgeschlagen und ihn an dem Wegweiser gekreuzigt hatte.
Er dachte fieberhaft nach. Was tun? Eine unerwartet großzügige Schicksalslaune hatte dazu geführt, daß Krosac nun glauben mußte, seine schauerliche Mission, soweit sie Andreja Tvar betraf, erfüllt zu haben; warum sollte er ihn dieser Illusion berauben? Indem er sich für immer in die Lumpen Old Petes hüllte, konnte es ihm gelingen, nicht nur Krosac, sondern auch die Einheimischen in dieser gottverlassenen Gegend zum Narren zu halten ...
Glücklicherweise handelte es sich bei dem Anzug, den Kiing getragen hatte, als er ermordet wurde, um einen abgetragenen eigenen, den er ein paar Tage zuvor Kling vermacht hatte. Er wußte, daß die Einwohner von Arroyo den Anzug zweifelsfrei ihrem Schulmeister Andrew Van zuordnen würden; wenn er zusätzlich ein paar Gegenstände in die Taschen steckte, die die Leiche als Andrew Van auswiesen. würde er als eindeutig identifiziert gelten.
Nachdem er seine Kleider nach Briefen und Schlüsseln durchsucht hatte, schlich er zur Kreuzung zurück, entfernte aus den Taschen der Leiche alles, was auf Kling hindeutete -der Mann in Uniform zitterte noch immer, wenn er sich dieser grausigen Aufgabe entsann -, stattete den Toten mit Vans Sachen aus und schlug sich dann weiter oben in die Büsche. Dort verbrannte er vorsichtig Klings Habseligkeiten und wartete darauf, daß jemand vorbeikam.
»Warum denn das?« fragte Vaughn. »Warum sind Sie nicht schleunigst zu Ihrer Hütte zurück?«
»Weil ich unbedingt in die Stadt mußte«, antwortete Van mit der allergrößten Selbstverständlichkeit, »um meine Brüder irgendwie zu warnen. Wenn ich jedoch einfach so in die Stadt gegangen wäre, ohne ein Wort über die Leiche an der Kreuzung zu verlieren, hätte ich mich sofort verdächtig gemacht, weil man an der Kreuzung vorbei muß, um in die Stadt zu gelangen. Wenn ich in die Stadt ging und meine Entdeckung allein meldete, zog ich damit vielleicht ebenfalls den Verdacht auf mich. Paßte ich jedoch den nächsten ab, der vorbeikam irgendeinen harmlosen Zeitgenossen -, dann konnte ich die Leiche mit ihm zusammen ›entdecken‹ und gefahrlos in die Stadt zurückkehren, um meine Vorräte aufzustocken und gleichzeitig meine Brüder zu benachrichtigen.«