Jonah wischte sich keuchend den Schweiß von der Stirn. »Hören Sie, hier gehen lauter rätselhafte Dinge vor sich, und keiner hält es für nötig, uns aufzuklären! Haben wir überhaupt keine Rechte mehr, oder wie dürfen wir das verstehen? Ich habe mitbekommen, wie Sie mit ihrem Pulk Dr. Temple zur Jacht gefolgt sind, und da dachte ich schon -«
»Daß Mr. Megara etwas zugestoßen sein könnte?« ergänzte Isham. »Nein, es ist so, wie Inspector Vaughn sagt.«
»Gott sei Dank!« Das angestaute Blut wich aus Lincolns scharfen Zügen, und er beruhigte sich etwas. Dr. Temple paffte friedlich und völlig unbeeindruckt vor sich hin. »Man weiß ja nie ... Hier geht es zu wie in einem Gefängnis«, murmelte Jonah. »Sie haben alles versucht, meine Schwester daran zu hindern, Bradwood zu betreten. Sie ist gerade von Oyster Island zurück und der Mann ...«
»Miss Lincoln ist zurückgekommen?« fragte der Inspector.
Dr. Temple nahm die Pfeife aus dem Mund. Gelassen war er nun nicht mehr. »Wann?« fragte er fordernd.
»Vor ein paar Minuten. Der Polizeibeamte wollte nicht -«
»Allein?«
»Ja. Sie -« Lincoln kam nicht dazu, seiner Entrüstung endlich Ausdruck zu verleihen. Sein Mund stand offen und schien sich nie wieder schließen zu wollen. Auch die anderen waren wie gelähmt.
Von irgendwo im Haus kam ein hysterisches, schrilles Lachen.
»Hester!« rief Dr. Temple und schoß, indem er Lincoln unsanft zur Seite stieß, um die Ecke.
»Um Gottes willen«, flüsterte Isham heiser. »Was zum Teufel war das?«
Lincoln rappelte sich hoch und stürzte dem Arzt hinterher. Ellery war ihm augenblicklich auf den Fersen, und auch die anderen hechelten hinterdrein.
Der Schrei war aus dem oberen Stock des Hauses gekommen. Als sie in der Eingangshalle anlangten, ließen sie einen leichenblassen Stallings hinter sich. Der runde Kopf von Mrs. Baxter reckte sich aus einer Hintertür.
Im oberen Stock befanden sich die Schlafzimmer. Als sie dort ankamen, sahen sie gerade noch, wie der drahtige Doktor in einem der Zimmer verschwand. Das hysterische Lachen hielt an; stoßartig preßte es eine Frau aus ihren Lungen hervor.
Sie fanden Dr. Temple, der Hester Lincoln in seinen Armen hielt, ihr zerzaustes Haar glättete und beruhigend auf sie einsprach. Das Gesicht des Mädchens war purpurrot angelaufen; ihre Augen schienen nichts zu sehen. Ihr Mund war aufgerissen und häßlich verzerrt. Das Mädchen schien jegliche Kontrolle über seine Stimmbänder verloren zu haben.
»Ein hysterischer Anfall!« schnaufte der Doktor über seine Schultern hinweg. »Helfen Sie mir, sie aufs Bett zu tragen!«
Vaughn und Jonah sprangen auf die junge Frau zu, woraufhin ihr Gekreisch doppelte Lautstärke annahm und sie sich mit Händen und Füßen zu wehren begann. Im selben Moment gewahrte Ellery tippelnde Schritte im Flur. Als er sich umdrehte, sah er Mrs. Brad im Neglige vor sich stehen; auch Helene erschien im Türrahmen.
»Was ist denn los?« keuchte Mrs. Brad. »Was ist passiert?«
Helene drückte sich an ihrer Mutter vorbei. Dr. Temple zwang das wild strampelnde Mädchen auf das Bett nieder und verpaßte ihr eine heftige Ohrfeige. Ein Schrei noch drang aus ihrer Kehle, bevor sie ganz verstummte. Hester richtete sich halb im Bett auf und starrte in das blasse, schwammige Gesicht von Mrs. Brad. Plötzlich schien sie ihre Umgebung wieder wahrzunehmen, und ein unmenschlicher Haß bemächtigte sich ihrer Züge.
»Ich hasse Sie, hasse Sie und alles, was Ihnen gehört. Raus hier, sage ich, raus hier!«
Mrs. Brads volle Lippen bebten. Ihre Schultern zitterten, während sie Hester fassungslos anstarrte. Dann stöhnte sie auf, drehte sich auf dem Absatz herum und stürzte hinaus.
»Sei still, Hester!« sagte Helene wütend. »Du weißt ja nicht mehr, was du redest! Hast du denn gar keinen Anstand im Leib? Sei jetzt ein braves Kind und gib endlich Ruhe!« Hesters Augen schienen sich in ihren Höhlen um die eigene Achse zu drehen; ihr Kopf fiel zur Seite, und sie sackte auf dem Bett in sich zusammen.
»Hinaus!« brüllte Dr. Temple. »Und zwar alle!«
Er legte das bewußtlose Mädchen behutsam auf den Rücken, während die anderen langsam den Raum verließen. Jonah, der zugleich verlegen und erleichtert schien, schloß leise die Tür hinter ihnen.
»Ich frage mich, was den Anfall ausgelöst hat«, sagte Isham stirnrunzelnd.
»Bei der Hysterie handelt es sich um die gängige weibliche Reaktion auf ein zutiefst aufwühlendes Erlebnis«, dozierte Ellery. »Habe ich das richtig in Erinnerung?«
»Das moralische Gewissen einer Neuengländerin«, murmelte der Professor, »in vollem Ausbruch.«
»Warum hat sie die Insel verlassen?« fragte Vaughn.
Jonah grinste schwach. »Nun, da es sowieso vorbei ist, kann ich es Ihnen auch erzählen. Hester hatte sich in diesen Widerling Romaine von Oyster Island verguckt. Aber jetzt ist sie schleunigst zurückgekommen. Es sieht ganz so aus, als habe er sich ihr -äh -unsittlich genähert.« Sein Gesicht wurde grimmig. »Ein weiteres Hühnchen, das ich mit diesem verdammten Schuft noch zu rupfen habe! Aber andererseits bin ich ihm auch zu Dank verpflichtet: Er hat ihr die Augen geöffnet und unfreiwillig dafür gesorgt, daß sie erkennt, wie weit sie vom rechten Wege abgewichen ist.«
Der Inspector bemerkte trocken: »Geht mich zwar nichts an; aber hat Ihre Schwester im Ernst geglaubt, daß er ihr Gedichte vorliest?«
Die Tür ging auf, und Dr. Temple erschien. »Der akute Anfall ist vorüber. Sie braucht jetzt vor allem viel Ruhe«, erklärte er. »Miss Brad, Sie können hereinkommen.« Helene nickte und schloß sachte die Tür hinter sich. »Sie wird wieder gesund werden. Ich gebe ihr jetzt etwas zur Beruhigung; dafür muß ich aber meine Tasche -« Hastig eilte er die Stufen hinunter.
Jonah starrte ihm nach. »Als sie vorhin zurückkam, hat sie mir versichert, sie wolle mit Romaine und dem verfluchten Nudistenkram nichts mehr zu tun haben. Sie will fort von hier nach New York, sagt sie. Will allein sein. Das wird ihr gut tun.«
»Bestimmt«, sagte Isham. »Wo ist Romaine jetzt?«
»Auf der Insel, nehme ich an. Hier hat er sich jedenfalls nicht blicken lassen, der dreckige -« Jonah verkniff sich weitere Kraftausdrücke und zuckte statt dessen mit den Schultern.
»Darf Hester Bradwood verlassen, Mr. Isham?«
»Nun Was meinen Sie, Vaughn?«
Der Inspector massierte sein Kinn. »Spricht nichts wirklich dagegen, solange wir wissen, wo wir sie erreichen können, wenn wir sie brauchen.«
»Übernehmen Sie die Verantwortung dafür, Mr. Lincoln?«
Jonah nickte eifrig. »Sie haben mein Wort darauf!«
»Ganz nebenbei gefragt«, warf Ellery ein. »Was hat Ihre Schwester eigentlich gegen Mrs. Brad?«
Jonahs Lächeln erstarb; es war, als ginge hinter seinen Augen ein Vorhang zu. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte er knapp. »Ich würde dem auch keine weitere Bedeutung beimessen. Sie wußte nicht, was sie sagte.«
»Eigenartig«, sagte Ellery. »Und dabei wollte es mir so scheinen, als hätte sie ganz genau gewußt, wovon sie sprach. Ich denke, Inspector, es wäre sicher nicht verkehrt, wenn wir uns einmal mit Mrs. Brad darüber unterhielten.«
»Ich fürchte -«, begann Lincoln und starrte dann wie gebannt die Stufen hinunter.
Einer von Vaughns Leuten stand am Fuß der Treppe.
»Dieser Romaine und der Alte«, sagte er, »sind unten am Kai und wollen Sie sprechen, Chief.«
Der Inspector rieb sich die Hände.
»Na, wie gefällt uns das? In Ordnung, Bill, ich komme. Den kleinen Plausch mit Mrs. Brad müssen wir leider verschieben, Mr. Queen. Aber die läuft uns ja nicht weg.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mitkäme?« fragte Jonah leise. Seine rechte Faust hatte sich bereits geballt.
»Hmm«, erwiderte der Inspector, betrachtete die Faust und grinste breit. »Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, Mr. Lincoln!«