»Ob wir es auch wissen! -Na, der Kopf! Brads Kopf!«
Dr. Temple war verblüfft. »Der Kopf«, wiederholte er langsam. »Auf den Gedanken war ich gar nicht gekommen ... Nein, ich dachte an etwas ganz anderes.«
»Woran?« fragte Ellery.
»Es war ein paar Jahre nach dem Krieg. Ich war endlich aus dem österreichischen Internierungslager entlassen worden und streifte durch Europa, um ein wenig den freien Auslauf zu genießen. In Budapest ... ja, da machte ich dann die Bekanntschaft eines gewissen Ehepaares. Wir wohnten im selben Hotel. Eines Tages fand man einen weiteren Gast des Hotels, einen deutschen Juwelier mit Namen Bundelein, gefesselt und geknebelt in seinem Zimmer; und eine wertvolle Kollektion, die er nach Berlin bringen wollte, war verschwunden. Er beschuldigte besagtes Ehepaar, das jedoch spurlos verschwunden war ... Als ich diesen Lynns hier vorgestellt wurde, war ich so gut wie sicher, daß es sich um dasselbe Paar handelte. Damals nannten sie sich Truxton -Mr. und Mrs. Percy Truxton ... Oh, mein Schädel! Gott, ich seh‘ immer noch Sterne. Könnte glatt als Teleskop durchgehen!«
»Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte Helene. »So reizende Leute! In Rom haben wir uns sofort wunderbar verstanden. Gebildet, offensichtlich wohlhabend, feine Umgangsformen ...«
»Wenn die Lynns das sind, wofür Dr. Temple sie hält«, sagte Ellery, »dann hatten sie ihre Gründe, freundlich zu Ihnen zu sein, Miss Brad. War ein Kinderspiel für die, Nachforschungen anzustellen und herauszukriegen, daß Sie die Tochter eines amerikanischen Millionärs sind. Vielleicht haben sie in Europa gerade ein Ding gedreht und ...«
»Sie haben sozusagen das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden«, fügte der Inspector hinzu. »Wahrscheinlich haben Sie recht, Doc, und sie haben Diebesgut vergraben. Was ist heute morgen passiert?«
Dr. Temple rang sich zu einem dünnen Lächeln durch. »Heute morgen? Nun, ich habe in den vergangenen zwei Wochen immer wieder einmal hier herumgeschnüffelt ... Heute morgen bin ich hergekommen, weil ich endlich zu wissen glaubte, wo sie das Zeug verbuddelt haben; ich habe schließlich die ganze Zeit danach gesucht. Ich bin also genau zu der Stelle hin, wo ich den Schatz vermutete, und habe zu graben begonnen, als dieser Kerl plötzlich vor mir stand. Dann spürte ich nur noch einen dumpfen Schlag; ich sah einen Blitz, und dann wurde mir schwarz vor Augen -das ist alles, was ich noch weiß. Ich nehme an, Lynn, oder Truxton, oder wie auch immer er heißen mag, war mir auf die Schliche gekommen. Er wußte, das Spiel war aus. Da hat er mir eins drübergegeben, die Beute ausgegraben und sich mit seiner Alten aus dem Staub gemacht.«
Als alter Soldat wollte Dr. Temple selbstverständlich selbst laufen. Auf Fox gestützt, stolperte er aus dem Haus in den Wald; die anderen folgten. Nur knapp einhundert Meter vom Waldrand entfernt stießen sie auf ein frisch ausgehobenes, nahezu quadratisches Loch von etwa fünfunddreißig Zentimetern Seitenlänge im weichen Waldboden.
»Kein Wunder, daß Scotland Yard ihnen nicht auf die Spur gekommen ist«, bemerkte Vaughn, als sie nach Bradwood zurückliefen. »Falsche Namen ... Mit Ihnen, Temple, habe ich noch ein saftiges Hühnchen zu rupfen. Warum, bitteschön, haben Sie mir die Geschichte nicht gleich erzählt?«
»Es war mein verdammter Stolz«, murmelte der Doktor kleinlaut. »Ich wollte den Triumph allein einheimsen. Außerdem war ich nicht restlos sicher. Ich wollte schließlich keine unschuldigen Leute ans Messer liefern. Aber -lassen Sie sie nicht ungeschoren davonkommen, das ertrage ich nicht!«
»Keine Sorge. Die sind noch heute abend hinter Schloß und Riegel.« Es stellte sich heraus, daß Inspector Vaughn den Mund etwas zu voll genommen hatte. Als die Dämmerung hereinbrach, befanden sich die Lynns noch immer in Freiheit. Sie waren spurlos verschwunden; niemand hatte ein Paar gesehen, das ihnen auch nur entfernt ähnelte.
»Müssen sich getrennt und maskiert haben«, knurrte Vaughn und sandte Telegramme an die Polizei in Paris, Berlin, Budapest und Wien.
Den ganzen Freitag über herrschte ebenfalls Flaute. Von den entflohenen Engländern fehlte noch immer jede Spur. Ihre Personenbeschreibungen wurden landesweit mitsamt ihren Paßbildern in Tausenden von Sheriffbüros und Polizeiwachen ausgehängt. Die Grenzen zu Mexiko und zu Kanada wurden besonders gut bewacht. Doch die Lynns bewiesen einmal mehr, wie schwierig es war, eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden.
»Die müssen einen Unterschlupf für den Notfall gehabt haben«, kommentierte Inspector Vaughn niedergeschlagen. »Aber früher oder später gehen sie uns ins Netz. Sie können sich nicht ewig verstecken.«
Am Samstag morgen erreichten sie drei Telegramme aus Europa. Das erste hatte der Polizeipräfekt von Paris geschickt.
EHEPAAR IHRER BESCHREIBUNG VON PARISER POLIZEI WEGEN RAUBES UND KORPERVERLETZUNG SEIT 1925 ALS MR UND MRS STRANG GESUCHT
Das zweite kam aus Budapest:
PERCY TRUXTON UND EHEFRAU SEIT 1920 WEGEN JUWELENRAUB IN UNGARN GESUCHT BESCHREIBUNG PASST
Das dritte - und aufschlußreichste - hatte Wien geschickt:
EHEPAAR IHRER BESCHREIBUNG IN ÖSTERREICH ALS PERCY UND BETH ANNIXTER BEKANNT HABEN FRANZÖSISCHEN TOURISTEN UM 50.000 FRANCS BETROGEN UND LETZTES FRÜHJAHR WERTVOLLE
JUWELEN GESTOHLEN BEANTRAGEN SOFORTIGE AUSLIEFERUNG SOLLTEN DIE BESCHULDIGTEN SICH IN DER GEWALT DER AMERIKANISCHEN POLIZEI BEFINDEN DIEBESGUT VERSCHOLLEN
Es folgte eine detaillierte Beschreibung der gestohlenen Juwelen.
»Wir kriegen noch internationalen Ärger, wenn wir sie endlich gefaßt haben«, brummte der Inspector, während er mit Ellery und Professor Yardley auf der Veranda der Villa Bradwood saß. »Frankreich, Ungarn und Österreich!«
»Vielleicht wird der Weltgerichtshof ja eine Sondersitzung einberufen«, bemerkte Ellery.
Der Professor verzog das Gesicht. »Sie bringen mich mit Ihrer ständigen Schludrigkeit noch ins Grab! Es gibt nur einen Internationalen Gerichtshof, und es würde sich um eine außerordentliche Sitzung handeln.«
»Mein Gott«, stöhnte Ellery und verdrehte die Augen.
»Wahrscheinlich ist Budapest zuerst dran«, murmelte Vaughn, »1920.«
»Würde mich sehr wundern«, mutmaßte der Professor, »wenn Scotland Yard die nicht auch im Visier hätte.«
»Unwahrscheinlich. Die sind verdammt gründlich. Wenn die nichts Passendes haben, können Sie Gift drauf nehmen, daß in London nichts gegen sie vorliegt.«
»Wenn sie wirklich Engländer sind«, sagte Ellery, »werden sie ihre Dinger natürlich vorzugsweise im Ausland gedreht haben. Obwohl der Mann ebensogut Mitteleuropäer sein könnte, und nichts kann man sich so mühelos zulegen wie einen Oxfordakzent.«
»Eines immerhin steht fest«, befand der Inspector. »In dem würfelförmigen Kasten, den sie verbuddelt hatten, befand sich der Schmuck aus Wien. Wir verständigen sofort die Kollegen und den Verband der Juweliere. Reine Zeitverschwendung zwar, weil die beiden sicher kaum Kontakt zu amerikanischen Hehlern haben und es erst recht nicht wagen werden, sich an saubere Schmuckhändler zu wenden -außer natürlich, sie brauchen dringend Bares.«
»Ich frage mich«, sagte Ellery mit geistesabwesendem Blick, »warum Ihr Kollege in Jugoslawien noch nicht geantwortet hat.«
Im Laufe des Tages stellte sich heraus, daß die Saumseligkeit der Jugoslawen ihre Gründe hatte. Vaughn und seine Männer waren gerade damit beschäftigt, Fahndungsberichte zum Fall Lynn durchzugehen, die alle paar Minuten telefonisch oder per Telegramm eintrafen.
Bis einer der Männer mit einem weiteren Kuvert in der Hand hereinstürmte. »Telegramm, Chief!«
»Na, endlich«, murmelte Vaughn. »War auch höchste Zeit.«
In dem Telegramm jedoch, daß der Polizeiminister von Belgrad geschickt hatte, stand lediglich: