BEDAUERN VERZÖGERUNG DER RECHERCHEN ZU DEN GEBRÜDERN TVAR UND VELJA KROSAC DIE NACH ZWANZIG JAHREN DADURCH ERSCHWERT WURDEN DASS MONTENEGRO ALS SELBSTÄNDIGER STAAT NICHT MEHR EXISTIERT DIE EXISTENZ BEIDER FAMILIEN IST VERBÜRGT AUCH DIE BLUTFEHDE WIR VERFOLGEN DIE SPUR WEITER UND WERDEN SIE INNERHALB VON VIERZEHN TAGEN ÜBER DAS ERGEBNIS UNSERER ERMITITLUNGEN UNTERRICHTEN
23. Der Kriegsrat
Sonntag. Montag ... Es war kaum zu glauben, wie wenig die Ermittlungen erbracht hatten, wie wenig die blutige Handschrift des Mörders letztlich hergab.
Dem Inspector, soviel war Ellery klar, drohte ein Schlaganfall, wenn es ihm nicht bald gelang, die weltläufigen Briten hinter Schloß und Riegel zu bringen. Um immer dieselben Fragen drehten sich die trüben Polizeikonferenzen, auf denen man Strategien erwog und sogleich wieder verwarf. Wo war Krosac? Oder -wer war der phantomhafte Hauptdarsteller dieser Schmierenkomödie, und warum schlug er nicht wieder zu? Er war weit von seinem Ziel entfernt; und es war unwahrscheinlich, daß die ständige Gegenwart der Polizei ihn davon abhielt, die beiden überlebenden Tvar-Brüder zu attackieren, zumal erwiesen schien, daß er von seiner Mission besessen war.
»Unsere Schutzmaßnahmen zugunsten von Andreja«, erklärte Ellery am Montag abend dem Professor, »waren zu perfekt. Krosacs Wartestellung ist nur noch dadurch zu erklären, daß er noch immer nicht herausgefunden hat, wo -und in welcher Maske - Van sich aufhält. Es ist uns gelungen, ihn zu täuschen -«
»Und damit auch uns selbst«, bemerkte der Professor. »Ich muß gestehen, daß ich mich inzwischen gehörig langweile, Queen. Wenn das Ihre aufregende Verbrecherjagd sein soll, dann bin ich in Zukunft vollauf damit zufrieden, historischen Quellen nachzuspüren -als Schreibtischtäter, versteht sich. Ich kann Sie nur dazu einladen; Sie werden die Rätsel der Menschheitsgeschichte unendlich viel spannender finden als schlechte Krimis wie diesen! Habe ich Ihnen jemals davon erzählt, wie Boussard, der französische Offizier, die berühmte Basaltstele -den Rosetta-Stein -im unteren Ägypten fand und damit die Ägyptologie revolutionierte? Und daß es zweiunddreißig Jahre gedauert hat, bis es Champollion gelungen ist, ihre dreifache Botschaft aus dem Zeitalter von Ptolemäus dem Fünften zu entziffern, wobei sich nämlich heraus -«
»All dies wiegt nichts«, wandte Ellery erbittert ein, »gegen Krosac. Wells muß ihn zum Vorbild gehabt haben, als er den Unsichtbaren schrieb.«
Gegen Abend erwachte Stephen Megara zum Leben. Er stand in der Mitte des Arbeitszimmers seines ermordeten Bruders und fixierte unversöhnlich seine Zuhörerschaft. Inspector Vaughn war ebenfalls anwesend, er saß in einem der Sheraton-Sessel, rauchte und kaute gequält an seinen Fingernägeln. Ellery saß neben Professor Yardley und fühlte sich unter den anklagenden Blicken von Stephen Megara äußerst unwohl. Helene Brad und Jonah Lincoln teilten sich die Couch; beide wirkten nervös; sie hatten ihre Hände ineinander verschlungen. Staatsanwalt Isham, den Megara aus Mineola herbeizitiert hatte, war im Türrahmen stehengeblieben, drehte Däumchen und hustete ununterbrochen. Captain Swift stand hinter seinem Arbeitgeber und fummelte unausgesetzt an seiner Mütze, während sich sein sehniger Hals an seinem steifen Kragen scheuerte. Dr. Temple, den niemand eingeladen hatte, war dennoch gebeten worden zu bleiben und hatte vor dem Kamin Stellung bezogen.
»Jetzt hören Sie bitte alle einmal zu«, begann Megara mit schneidender Stimme, »Sie ganz besonders, Inspector Vaughn und Mr. Isham! Es sind jetzt drei Wochen vergangen, seit mein - seit Brad ermordet wurde; und ich bin vor zehn Tagen nach Bradwood zurückgekehrt. Bitte teilen Sie mir Ihre Ermittlungsergebnisse mit.«
Inspector Vaughn wand sich in seinem Sheraton-Sessel. »Mir gefällt Ihr Ton nicht, Mister. Sie wissen genau, daß wir alles versucht haben, was in unseren Möglichkeiten -«
»Nicht alles«, widersprach Megara. »Nicht annähernd, Inspector. Sie kennen die Identität des Mörders. Sie haben sogar eine partielle Beschreibung von ihm. Man hätte erwartet, daß es für Sie bei Ihren Möglichkeiten ein Klacks wäre, ihn zu fassen.«
»Das -äh -ist auch nur noch eine Frage der Zeit, Mr. Megara«, versuchte Isham zu schlichten. Die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf, die graues Haar umkränzte, war rötlich feucht. »So einfach, wie Sie denken, ist das aber leider nicht!«
Vaughn wurde sarkastisch: »Und wie Sie wissen, haben es hier nicht alle mit der Wahrheit so sonderlich genau genommen, wodurch es vermeidbare Verzögerungen gegeben hat! Keiner hat es für nötig gehalten, uns in seine miesen kleinen Geheimnisse einzuweihen!«
»Unsinn!«
Vaughn erhob sich. »Und das«, sagte er zähnefletschend, »gilt nicht zuletzt auch für Sie, Megara!«
Der Segler verzog keine Miene. Hinter ihm fuhr sich Captain Swift mit einem seiner blauen Ärmel über den Mund und stopfte seine verstümmelte Hand in eine seiner ausgebeulten Taschen. »Was soll das heißen?«
»Hören Sie, Vaughn«, begann der Staatsanwalt beunruhigt.
»Nichts ›Hören Sie, Vaughn‹! Das regle ich, Isham!«
Der Inspector machte einen Schritt vorwärts, baute sich - eine einzige Drohgebärde -vor Megara auf und kam ihm so nahe, daß sie Brust an Brust standen.
»Sie spielen mit dem Feuer, Megara. Aber bitte, ganz wie Sie wollen! Mrs. Brad hat uns ein ziemlich dreistes Märchen aufgetischt; Mr. Lincoln und ihre Tochter haben sie gedeckt. Fox‘ Schwindeleien haben uns ebenfalls Zeit und Nerven gekostet. Und unser Dr. Temple« - der Doktor fuhr zusammen und begann, sich mit nervösen Fingern eine Pfeife zu stopfen »war im Besitz brisanter Informationen, wollte aber unbedingt den Helden spielen und zwei Gauner im Alleingang stellen nicht auszudenken, was hätte passieren können! Ergebnis: Sie hauen ab, und er kriegt ordentlich eins drüber. Was er sich redlich verdient hat!«
»Sie haben«, erwiderte Megara ruhig, während er dem Inspector fest in die Augen sah, »gerade auch meine Person erwähnt. Inwiefern habe ich Ihre Ermittlungen behindert?«
»Inspector Vaughn«, begann Ellery sachte. »Meinen Sie nicht, daß Sie -ähm -vielleicht ein wenig übers Ziel hinausschießen?«
»Sie halten sich da jetzt brav raus!« brüllte Vaughn, ohne sich zu Ellery herumzudrehen. Er war zornesrot; während sich seine Halssehnen anspannten, schienen ihm die Augen beinahe aus dem Kopf zu treten. »Nun gut, Megara. Sie haben uns da neulich so eine Geschichte erzählt ...«
Megara zeigte keinerlei Regung. »So?«
Vaughn bemühte sein schmutzigstes Grinsen. »Noch können Sie mich umstimmen.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, erwiderte Megara kühl. »Werden Sie deutlicher!«
»Vaughn!« flehte Isham.
»Ich werde so deutlich, wie es mir, verdammt noch mal, paßt! Sie wissen nur zu gut, wovon ich rede. Drei Männer haben sich vor ein paar Jahren fluchtartig ins Ausland abgesetzt. Warum?«
Megara senkte den Blick für den Bruchteil einer Sekunde. Als er jedoch zu sprechen begann, konnte er seine Verunsicherung nicht länger verbergen.
»Das habe ich Ihnen bereits erzählt.«
»Allerdings. Allerdings haben Sie das. Es geht mir jedoch nicht darum, was Sie uns erzählt haben. Es geht mir darum, was Sie uns verschwiegen haben!«
Megara trat einen Schritt zurück, zuckte mit den Schultern und schmunzelte. »Also, ich muß schon sagen, Inspector; die Ermittlungen haben Ihrem Verstand offenbar etwas zugesetzt. Ich habe Ihnen die Wahrheit erzählt. Natürlich hatte ich nicht die Zeit, Ihnen eine komplette Biografie zu liefern. Sollte ich also ein Detail vergessen haben -«
»Dann deshalb, weil Sie es für unwichtig hielten?« Vaughn lachte. »Das höre ich nicht zum ersten Mal.«
Er wandte sich um und wollte sich setzen; dann überlegte er es sich jedoch anders und drehte sich wieder zu Megara herum. »Bitte machen Sie sich klar -wenn Sie uns hier schon zur Rechenschaft ziehen -, daß unser Beruf nicht nur darin besteht, einen Mörder zu suchen. Wir müssen uns auch durch ein Wirrwarr von Motiven, verheimlichten Tatsachen und dreisten Lügen wühlen! Bitte vergessen Sie das nicht!« Er setzte sich. Seine hohlen Wangen schienen sich vor lauter Aufregung fast zu blähen.