»Unbewiesen!« Ellery stöhnte auf. »Ich kann Ihnen jederzeit eine vollständige, beweisbare Theorie konstruieren, ohne albern herumzuraten und es auf gut Glück mit der einen oder anderen Annahme zu probieren! Nein, meine Theorien basieren auf einer Kette von Schlußfolgerungen, von denen keine einzige wackelt! -Der Haken daran ist nur, daß wir damit vorerst auch nicht weiterkommen.«
Der Professor sog nachdenklich an seiner Pfeife. »Augenblick, bitte, das war noch nicht alles, was ich sagen wollte. Ich hätte da auch noch eine andere Theorie, die sich leider auch nicht mit konkreten Fakten belegen läßt, aber deswegen nicht weniger unwahrscheinlich ist als die andere. Und die wäre, daß Brad an jenem Abend zwei Gäste hatte: die Person, die er erwartete, und deretwegen er Frau, Stieftochter und Personal fortgeschickt hatte, und seinen Mörder Krosac. In diesem Fall wäre auch leicht zu erklären, warum der geladene Gast, ob er nun vor oder nach Krosac kam, als Brad bereits tot war, seinen Besuch verschwiegen hat -weil er nicht mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht werden wollte. Ich bin sehr erstaunt darüber, daß bislang niemand an diese Möglichkeit gedacht hat. Ich warte seit drei Wochen darauf, daß Sie sie ansprechen.«
»So?« Ellery nahm sein Pincenez ab und legte es auf den Tisch; seine Augen waren rot gerändert und von Aderchen durchzogen. Plötzlich erhellte ein Blitz den Raum und tauchte die Gesichter der beiden Männer in ein gespenstisches Blau. »Große Erwartungen!«
»Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, Sie sind tatsächlich nicht drauf gekommen! «
»O doch. Aber ich habe diesen Gedanken sofort verworfen, weil er nichts taugt.«
»Ha«, protestierte der Professor lustvoll. »Das müßten Sie schon etwas genauer ausführen! Wollen Sie mir im Ernst weismachen, Sie könnten beweisen, daß in der Mordnacht nur ein Besucher das Haus betreten hat?«
Ellery lächelte matt. »Sie bringen mich in eine unangenehme Lage, wenn Sie so fragen. Die Stichhaltigkeit einer Beweisführung hängt immerhin stärker von demjenigen ab, der sie beurteilt, als von demjenigen, der sie vorträgt ... Es wird jetzt ein wenig kompliziert. Sie erinnern sich ja sicher, was dieser französische Moralist mit dem unmöglichen Namen Luc de Clapier de Vauvenargues gesagt hat: ›Lorsqu’une penstée est trop faible paur porter une expression simple, c’est la marque pour la rejeter.‹ (Wenn ein Gedanke zu diffus ist, um ihn einfach und präzise auszudrücken, sollte man ihn fallenlassen.) Aber darauf werde ich zu gegebenem Zeitpunkt noch zurückkommen.«
Der Professor lehnte sich erwartungsvoll vor; Ellery setzte sein Pincenez zurück auf seinen Nasenrücken und fuhr dann fort: »Meine Argumentation hängt von zwei Elementen ab -von der Position der Damesteine auf dem Brett und der Psychologie von Meisterspielern. Verstehen Sie etwas davon, Professor? Ich meine mich zu erinnern, Sie hätten einmal dem Sinne nach bemerkt, Sie hätten nie mit Brad gespielt.«
»Das stimmt. Die Dameregeln beherrsche ich allerdings schon. Ich habe nur seit Jahren keine Übung mehr.« »Dann werden Sie auch meiner Analyse folgen können. Als Stallings das Arbeitszimmer betrat, sah er Brad mit sich selbst spielen, genauer gesagt, sah er die Eröffnungszüge. Diese Aussage war es, die unsere Freunde in die Irre geführt hat. Sie nahmen einfach an, daß Brad immer noch gegen sich selbst spielte, als er ermordet wurde, weil er gegen sich selbst spielte, als Stallings ihn zum letzten Mal sah. Auch Sie sind darauf hereingefallen. Die Steine auf dem Brett erzählten jedoch eine ganz andere Geschichte. Wie war noch einmal die Verteilung nicht nur der Steine im Spiel, sondern auch derer, die aus dem Feld geschlagen worden waren? Sie erinnern sich: Schwarz hatte neun rote Steine geschlagen, die in der Ablage zwischen dem Brett und dem Tisch lagen. Rot hingegen hatte nur drei schwarze Steine geschlagen, die in der Ablage gegenüber lagen. Schwarz war Rot also weit überlegen. Auf dem Brett selbst befanden sich drei schwarze Damen oder Doppelsteine und drei schwarze Einzelsteine. Rot hingegen hatte nur noch zwei armselige Einzelsteine.«
»Und wenn schon!« sagte der Professor. »Ich kann darin noch immer nichts anderes entdecken, als daß Brad gegen sich selbst spielte und ein paar Züge gemacht hatte, die sehr zum Nachteil seines imaginären Gegners waren.«
»Eine unhaltbare Folgerung«, entgegnete Ellery. »Soweit es einsame Experimente betrifft, sind Meisterspieler grundsätzlich nur an Eröffnung und Endspiel interessiert; das gilt für Dame ebenso wie für Schach, und es gilt wahrscheinlich für alle Spiele, bei denen der Scharfsinn herausgefordert ist und bei denen die Entscheidung über Sieg oder Niederlage allein vom Können des einzelnen Spielers abhängt. Warum sollte Brad, der nur zu Trainingszwecken gegen sich selbst spielte, sich mit einem solch ungleichen Spielstand befassen, in dem Schwarz um drei Damen und einen Stein im Vorteil war? Ein reines Übungsspiel hätte er lange vorher abgebrochen. Experten können Ihnen selbst bei geringerer Ungleichheit in der Anzahl der Steine oder des strategischen Vorteils auf den ersten Blick sagen, wie die Partie ausgehen wird, wenn keiner mehr einen Fehler macht. Hätte Brad diese Partie ernsthaft zu Ende gespielt, wäre das mit einem Aljechin zu vergleichen, der eine Schachpartie gegen sich selbst weiterspielt, obwohl Schwarz mit einer Dame, zwei Läufern und einem Springer im Vorteil ist! Daraus ergibt sich folgendes: Während Brad mit einer Trainingspartie begann, als Stallings ihn sah, spielte er später am Abend keinesfalls mehr gegen einen ernstzunehmenden Gegner wie zum Beispiel sich selbst. Ein Meister würde niemals mit einem solch ungleichen Spielstand herumexperimentieren; der Spielstand läßt sich nur damit erklären, daß er einen konkreten Gegner hatte.«
Draußen hatte es wolkenbruchartig zu schütten begonnen; das Wasser prasselte schmutziggrau gegen die Fensterscheiben.
Yardleys weiße Zähne blitzten über seinem schwarzen Bart auf, und er begann zu lachen. »Gut, gut! In diesem Punkt gebe ich mich geschlagen. Die Möglichkeit, daß Brad mit seinem geladenen Gast spielte und das Brett so hinterließ, wie wir es gefunden haben, bevor er von Krosac ermordet wurde möglicherweise nachdem der Gast gegangen war, besteht allerdings immer noch.«
»Alle Achtung!« schmunzelte Ellery. »Sie sind verdammt zäh! Und zwingen mich, aus doppeltem Lauf zu feuern -mit Logik und gesundem Menschenverstand! Betrachten Sie es doch einmal so: Können wir etwas über die Tatzeit im Verhältnis zur Spieldauer aussagen? Ich behaupte ja. Denn in der Grundreihe von Schwarz befand sich ein roter Stein. Im Damespiel darf man jedoch seinen Stein in eine Dame umwandeln, das heißt, wie Sie wissen, einen anderen Stein darauflegen, sobald man die Grundreihe des Gegners erreicht hat. Wie kommt es nun, daß Rot einen Stein in der schwarzen Grundreihe hatte, ohne ihn jedoch in eine Dame umzuwandeln?«
»Langsam begreife ich«, murmelte Yardley.
»Die Partie muß an diesem Punkt unterbrochen worden sein, denn man hätte sie nicht fortsetzen können, solange Rot diesen Schritt nicht ausführte!« Ellery sprach nun immer schneller. »Gibt es weitere Anhaltspunkte dafür, daß die Partie an diesem Punkt unterbrochen wurde? Ja! Die erste Frage, die wir klären müssen, lautet: Hat Brad in seiner letzten Partie Schwarz oder Rot gespielt? Wir können es als gegeben bewachten, daß Brad ein meisterlicher Spieler war; immerhin hatte er einmal den Landesmeister zu Gast und konnte sich mit einem beachtlichen
Unentschieden gegen ihn behaupten. Ist es dann wahrscheinlich, daß er Rot spielte, wenn Rot um drei fatale Damen und einen Einzelstein unterlegen war? Wohl kaum; wir können also davon ausgehen, daß er Schwarz spielte ... Lassen Sie mich der Vollständigkeit halber noch einfügen, was wir inzwischen wissen: Die Überlegenheit von Schwarz war nicht ganz so vernichtend wie zunächst angenommen -zwei Damen und zwei Steine im Gegensatz zu drei Damen und einem Stein , denn Rot war gerade im Begriff, eine Dame zu machen. Dennoch war der Vorteil in jedem Fall spielentscheidend. Wenn Brad jedoch Schwarz spielte, muß er während der Partie auf der Seite des Sekretärs gesessen haben; sein Gast und Gegner muß folglich gegenüber gesessen und auf den Sekretär geblickt haben, während Brad mit dem Rücken dazu saß.«