»Und was haben Sie davon?«
»Nichts«, erwiderte Ellery zerknirscht. »Genau das habe ich gemeint, als ich vorhin sagte, ich träte seit drei Wochen auf der Stelle ... Aber wo ich schon einmal dabei bin -es ist mir gelungen, aus der trüben Brühe der Ungewißheit ein weiteres Faktum herauszufischen. Dumm von mir, daß ich nicht sofort drauf gekommen bin.«
Der Professor stand auf und klopfte seine Pfeife am Kamin aus. »Sie stecken heute abend voller Überraschungen«, sagte er, ohne sich umzublicken. »Ich höre.«
»Ich behaupte mit hundertprozentiger Sicherheit, daß Krosac nicht hinkt.«
»Das wissen wir doch längst«, entgegnete Yardley. »Ach, halt, nein. Wir haben uns nur darauf geeinigt, daß es so, aber auch so sein könnte. Aber wie -«
Ellery sprang auf, streckte sich und begann, auf und ab zu schreiten. Die Luft in der Bibliothek war schwül, und der Regen draußen hämmerte immer wütender gegen die Scheiben. »Krosac, als wer auch immer er sich ausgab, war Brad gut bekannt. Brad kannte jedoch niemanden näher, der hinkt. Krosac hinkt also in Wirklichkeit nicht mehr, hat jedoch auf sein längst behobenes Jugendleiden zurückgegriffen, um die Polizei in die Irre zu führen.«
»Ach, deshalb«, murmelte Yardley, »hat er sein vermeintliches Hinken nicht kaschiert. Aber ja! Er hört auf zu hinken, sobald er Gefahr riecht. Kein Wunder, daß es so schien, als hätte er sich in Luft aufgelöst! Da hätte ich drauf kommen müssen!«
Yardley wippte hin und her, die erkaltete Pfeife hing ihm vom Mundwinkel herab. »Und damit wären wir wieder am Ausgangspunkt angelangt.« Er betrachtete Ellery aufmerksam. »Noch immer keine Spur von dem flüchtigen Gedanken?«
Ellery schüttelte den Kopf. »Er versteckt sich noch immer hinter irgendeiner Gehirnwindung ... Lassen Sie mich nachdenken. Den Mord an Kling haben wir hinreichend erklärt. Krosac, mit vorgetäuschtem Hinken, in der direkten Nachbarschaft; Motiv, Umgebung, Methodik des Verbrechens paßt alles. Es handelt sich um Blutfehde. Krosac glaubt, er habe Andreja, einen der Tvar-Brüder, getötet. Wie aber ist es ihm gelungen, gerade Van aufzustöbern, der sich am geschicktesten getarnt hat? Frage vorerst nicht zu beantworten ... Krosac schlägt wieder zu, diesmal muß Brad dran glauben. Woher
kennt er dessen Identität? Wieder nicht zu beantworten. Die Fäden ziehen sich zusammen; Krosac findet Brads Mitteilung an die Polizei und weiß nun, daß er in Arroyo den Falschen erwischt hat und Van noch am Leben ist. Doch wo ist Van? Egal, ich muß ihn finden, sagt sich Krosac, sonst ist meine Rache unvollendet -sehr melodramatisch. Vorhang ... Dritter Akt: Megara kehrt zurück, worauf Krosac vorbereitet ist. Vorhang auf für den einsamen Wahrer des großen Geheimnisses. Wie in der Mitteilung stand, weiß nur Megara, wo und in welcher Maske Van sich aufhält. Pause. Eine leichte Verzögerung. Und dann ... Um Gottes willen!«
Der Professor saß regungslos in seinem Sessel und hielt die Luft an. Alle Zeichen deuteten darauf hin, daß es Ellery gelungen war, den flüchtigen Gedanken endlich zu fassen; er stand wie angewurzelt mitten im Raum und strahlte in der ersten Euphorie seiner Entdeckung.
»Gott«, rief Ellery und sprang einen halben Meter in die schwüle Luft. »Was für ein Idiot muß ich gewesen sein! Was für ein blödsinniger Esel! Was für ein gnadenloser Schwachkopf! Ich hab‘s!«
»Ich sage doch, es funktioniert immer«, sagte Yardley schmunzelnd und lehnte sich entspannt zurück. »Was ... Junge! Was haben Sie denn jetzt schon wieder?«
Er verstummte alarmiert. Ellerys Gesichtsausdruck hatte eine dramatische Wandlung durchgemacht; sein Mund stand offen, sein Blick verfinsterte sich, und er zuckte zusammen, wie Menschen bei der bloßen Vorstellung tödlicher Hiebe zusammenzucken.
Die seltsamen Erscheinungen verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren. »Hören Sie«, sagte er hektisch. »Wir haben keine Zeit mehr für ausgedehnte Analysen! Das folgende muß reichen: Worauf haben wir gewartet? Worauf hat Krosac gewartet? Wir haben darauf gewartet, daß Krosac einen Versuch unternimmt, über Megara, die einzige Informationsquelle, herauszufinden, wo sich Van aufhält. Krosac hat abgewartet, bis ihm der Zeitpunkt günstig erschien. Und dann hat er Megara umgebracht! Das kann nur eines bedeuten!«
»Er hat es herausgefunden!« krächzte Yardley, dessen dunkle Stimme unter dem Gewicht dieser Erkenntnis gebrochen war. »Mein Gott, Queen, wie blind müssen wir gewesen sein! Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!«
Ellery verzichtete, um Zeit zu sparen, auf einen Kommentar, und hastete statt dessen zum Telefon. »Western Union ... Ich möchte ein Telegramm aufgeben. Bitte so schnell wie möglich. Adressiert an Constable Luden in Arroyo, West Virginia ... Ja. Text: ›Steigen Sie sofort mit zuverlässigem Trupp zu Old Petes Hütte hoch. Schützen Sie ihn, bis ich da bin. Benachrichtigen Sie Crumit. Krosac kehrt zurück. Falls es bereits zu spät ist, verfolgen Sie Krosacs Spur, aber rühren Sie am Tatort nichts an.‹ Absender Ellery Queen. Bitte wiederholen Sie ... Krosac. K-r-o-s-a-c. Genau ... Danke.«
Er knallte den Hörer auf die Gabel, überlegte es sich jedoch noch einmal anders und nahm ihn wieder ab. Er rief im Nachbarhaus an, um mit Inspector Vaughn zu sprechen, erfuhr jedoch von Stallings, daß der Inspector Bradwood vor kurzem überstürzt verlassen hatte; Ellery ließ Stallings kaum zu Wort kommen, sondern verlangte gereizt, einen seiner Männer an den Apparat zu holen. Wo, bitte, war Vaughn? Der Mann am anderen Ende bedauerte, keine Auskunft geben zu können, er wisse es auch nicht. Der Inspector hatte eine Nachricht erhalten und war zusammen mit Staatsanwalt Isham unverzüglich aufgebrochen.
»Verflucht«, stöhnte Ellery, als er den Hörer einhängte. »Was machen wir jetzt bloß? Wir dürfen auf keinen Fall Zeit verschwenden!« Er stürzte ans Fenster und schaute hinaus. Das
Unwetter war noch schlimmer geworden; es regnete sintflutartig, Blitze zuckten am dunkelgrauen Himmel, und das Donnergrollen nahm kein Ende mehr. »Hören Sie«, sagte Ellery, indem er sich umwandte. »Sie müssen zurückbleiben, Professor!«
»Ich lasse Sie nicht allein hinaus«, entgegnete Yardley gekränkt. »Besonders bei diesem Sturm. Wie wollen Sie denn überhaupt da hinkommen?«
»Machen Sie sich darum keine Sorgen. Sie bleiben hier und versuchen Ihr Möglichstes, um Vaughn und Isham zu kontaktieren!« Ellery sprang erneut zum Telefon. »Den Flugplatz von Mineola. Schnell, bitte!«
Der Professor strich sich beklommen durch seinen Bart, während Ellery wartete. »Queen, Junge, jetzt nehmen Sie bitte augenblicklich Vernunft an! Sie können doch bei dem Wetter unmöglich fliegen!«
Doch Ellery winkte nur ab. »Hallo? Hallo? Mineola? Bitte eine schnelle Maschine für einen Sofortflug nach Südwesten! Was?« Ellery machte ein enttäuschtes Gesicht und legte auf. »Sogar die Elemente haben sich gegen mich verschworen! Über dem Atlantik ist ein Sturm aufgezogen, der in südwestliche Richtung zieht. In den Alleghenies soll es besonders schlimm werden, sagt der Mann vom Flugplatz, es wird in absehbarer Zeit keine Starterlaubnis gegeben. Was zum Teufel soll ich bloß machen?«
»Fahren Sie mit der Bahn«, schlug Yardley vor.
»Ach was! Ich vertrau‘ einfach dem alten Duesie! Könnten Sie mir einen Regenmantel borgen, Professor?«
Sie eilten in den Flur; Yardley öffnete einen Schrank, holte eine lange Regenjacke heraus und half Ellery hinein. »Und seien Sie nicht leichtsinnig! Es ist ein offener Wagen, die Straßen werden in einem unmöglichen Zustand sein, Sie haben eine furchtbar lange Fahrt ...«