»In eurem letzten Duell blieb er immerhin Sieger«, entgegnete Julia und ärgerte sich im nächsten Moment über ihre Antwort.
Harald musterte sie scharf. »Reiner Dusel. Er hatte ein paar neue Tricks auf Lager, das ist alles. Das nächste Mal…«
»Einen Augenblick!« Julias Augen wurden plötzlich schmal. »Habe ich mich eben verhört, oder stimmt es, dass Rupert im Morgengrauen mit in die Schlacht ziehen wird?«
»Natürlich wird er das«, sagte Harald. »Es ist seine verdammte Pflicht!«
»Das kann nicht dein Ernst sein! Du hast ihn im Thronsaal gesehen. Er ist mit seinen Kräften am Ende.«
Harald zuckte kühl mit den Schultern. »Das lässt sich nicht ändern. Das Volk erwartet, dass Rupert, Vater und ich an der Spitze des Heeres reiten. Jemand muss den Haufen schließlich befehligen. Obwohl es ziemlich gleichgültig ist, ob Rupert auftaucht oder nicht, solange ich zur Stelle bin. Ich bin der Kronprinz, mir werden sie folgen.«
»Er wird da sein, das weißt du ganz genau«, sagte Julia.
Ein kalter Zorn hüllte sie ein wie ein vertrauter alter Mantel.
»Rupert kennt seine Pflichten. Er hat sie immer gekannt. Und er ist kein Feigling!«
Harald lachte höhnisch. »Rupert war immer ein Feigling.
In seinem Zimmer muss heute noch ein Nachtlicht brennen, damit er schlafen kann.«
Julia wandte sich wortlos ab und stieg die Stufen des Thronpodests hinunter. Harald eilte ihr nach.
»Julia! Wohin gehst du?«
»Ich muss Rupert sehen. Ich muss mit ihm reden.«
Harald holte sie am Fuß des Podests ein und packte sie am Arm. Sie riss sich los und umklammerte den Schwertgriff.
»Lass mich in Frieden, Harald!«
»Nein, Julia!«, sagte er mit großer Bestimmtheit. »Dafür ist es jetzt zu spät. Du hast deine Wahl getroffen und kannst sie nicht mehr rückgängig machen.«
»Du bist dir deiner Sache sehr sicher, Harald.«
»Allerdings. Oder glaubst du wirklich, Rupert nähme dich noch, wenn er wüsste, wie nahe wir uns während seiner Abwesenheit gekommen sind?«
»Ich glaubte, er sei tot.«
»Ich bezweifle, dass das für Rupert einen großen Unterschied macht. Er war schon immer eher… altmodisch… in solchen Dingen. Finde dich mit den Tatsachen ab, meine Liebe! Du hast mein Bett gemacht – und jetzt musst du darin schlafen! Vergiss Rupert! Wir werden in Kürze heiraten, Julia, und als meine Gemahlin musst du lernen, mir zu gehorchen.«
Julia zog mit einem Ruck das Knie hoch, und Harald krümmte sich keuchend. Ohne sich nach ihm umzusehen, eilte sie auf die Tür zu, hinter der Rupert verschwunden war.
Ein einziger Gedanke trieb sie vorwärts: Wenn sie jetzt nicht Rupert sprach, zog er womöglich in dem Glauben gegen die Dämonen, dass sie ihn nicht mehr liebte. Und sie konnte ihn nicht so in den Tod gehen lassen.
Sie stürmte aus dem Thronsaal und den Korridor entlang, der zu den Privatgemächern des Königs führte. Einen Moment lang verschnaufte sie an der Eingangstür, ehe sie höflich klopfte. Niemand forderte sie zum Eintreten auf, und als sie den Drehgriff betätigen wollte, gab er nicht nach. Sie boxte mit der Faust gegen das massive Holz und wich plötzlich einen Schritt zurück, als im Paneel ein glühendes Auge erschien und sie anstarrte. Julia begann am ganzen Leib zu zittern. Alle ihre Instinkte befahlen ihr, kehrtzumachen und zu fliehen, aber sie blieb eisern stehen und starrte trotzig zurück.
Diese Tür ist versiegelt, sagte eine kalte Stimme in ihrem Kopf.
»Du musst mich einlassen«, flehte Julia. »Ich muss den König sprechen.«
Nur Prinz Harald, Prinz Rupert und der Große Zauberer haben hier Zutritt, erklärte die kalte Stimme. Für alle anderen sind die Räume versiegelt. Geh jetzt!
»Ich muss den König sprechen! Es ist wichtig!«
Geh jetzt!
»Verdammt, lass mich durch!«
Julia griff nach ihrem Schwert, und ein greller Blitz schleuderte sie zu Boden. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen, und erhob sich unsicher, sorgsam darauf bedacht, das Schwert nicht mehr zu berühren. Das Auge in der Tür starrte sie ruhig an, hell, metallisch und ganz und gar unmenschlich.
Geh, sagte die kalte Stimme. Geh jetzt!
Julia bedachte das unerbittliche Auge mit wütenden Blicken, ehe sie sich abwandte und den Korridor zurückging.
Das Auge sah ihr nach, schloss sich dann und verschwand wieder im Türpaneel. Julia kehrte langsam in den Thronsaal zurück. Was immer König Johann mit seinen Söhnen und dem Großen Zauberer zu besprechen hatte, musste verdammt wichtig sein, wenn er sich mit einem derart mächtigen Bann vor unbefugten Eindringlingen schützte. Dann würde sie eben später mit Rupert sprechen.
Sie musste ihm die Wahrheit sagen, solange noch Zeit dazu war.
Tief im ständigen Halbdunkel des Südflügels schwang langsam eine verborgene Tür auf, und Lord Darius trat in den Gang hinaus. Er spähte vorsichtig umher, aber nichts und niemand bewegte sich in der breiten, leeren Galerie, die sich zu beiden Seiten erstreckte, kalt, dunkel und still. Mit einem schwachen Lächeln zog Darius die Tür hinter sich zu. Sie schloss sich mit einem kaum hörbaren Klicken, und nichts deutete mehr darauf hin, dass die Wandvertäfelung ein Geheimnis barg. Eine einzelne Fuchsfeuer-Ampel nahe der Decke verbreitete ein trübes Licht, aber Darius hatte seine Augen so an das Dunkel gewöhnt, dass er den Korridor deutlich erkennen konnte. Seine Blicke glitten unruhig hin und her. Er fühlte sich nach dem langen Aufenthalt in dem engen, verwinkelten Tunnellabyrinth hier im Freien nicht besonders wohl, und so kauerte er sich mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden nieder. Die einst so modische Kleidung starrte vor Schmutz und umschlotterte seinen ausgezehrten Körper.
Die Haut wirkte fleckig und wächsern und bildete schlaffe Falten um Wangen und Kinn, weil er in zu kurzer Zeit zu viel Gewicht verloren hatte. Niemand aus der noblen Hofgesellschaft hätte den eleganten Lord Darius wiedererkannt, der wie eine dürre, halb wahnsinnige Vogelscheuche auf dem Boden hockte, weil er die Dämmerung dem Licht vorzog.
Seine verquollenen Augen glitzerten, als er in das Halbdunkel blinzelte, bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr die Flucht zu ergreifen. Immer wieder tastete er ruhelos nach dem Dolch in seinem Ärmel, aber kein Schatten bewegte sich, und kein Laut außer seinem eigenen unregelmäßigen Atem unterbrach die Stille. Der Südflügel lag so verlassen da wie seit vielen Jahren, aber in der dumpfen Luft lastete eine Spannung, als ahnten die Steine selbst, dass etwas Böses durch die leeren Korridore schlich.
Ein kalter, düsterer Ausdruck lag auf Darius' Zügen, als trage er ein furchtbares Wissen mit sich herum, von Dingen, die im Dunkel geplant und ausgeführt werden mussten, weil sie das Licht des Tages scheuten. Rupert hätte diesen Ausdruck richtig gedeutet. Er hatte die endlose Nacht durchquert und etwas von jener Finsternis war für immer in seiner Seele zurückgeblieben. Der Dunkelwald hatte sie beide gezeichnet, aber während Rupert dagegen ankämpfte, hatte sich Darius bereitwillig in sein Schicksal ergeben – in der Hoffnung auf den versprochenen Lohn.
Darius hielt die linke Hand hoch, und Flammen umflackerten seine Finger, ohne sie zu versengen. Er besaß jetzt Macht, die dunkle Macht seines Herrn und Meisters, und mit dieser Macht wollte er alle offenen Rechnungen begleichen, alle Kränkungen rächen. Darius lachte leise, und die Flammen verschwanden. Er kauerte allein im Schatten, stumm und stumpf, und wartete in der Stille und Kälte des verlassenen Südflügels auf jene, die er fürchtete und hasste.