»Was wollen Sie von mir?«
»Mein Name ist Chane«, sagte der Mann vom Torhaus.
»Sie wissen, wer ich bin? Dachte ich mir fast. Sie hätten uns alle umbringen können, Sie verdammter Blödmann, und das wegen ein paar Gardesoldaten! Ich weiß nicht, was zum Teufel Sie da draußen gesucht haben oder wie es Ihnen gelang, das Tor zu öffnen, aber ich verspreche Ihnen eines: Sobald wir mit Ihnen fertig sind, wünschen Sie sich vermutlich, dass Sie den Dämonen in die Hände gefallen wären!«
Klasse, dachte Rupert. Da pf lüge ich mich durch sämtliche Dämonen des Dunkelwalds, nur um gleich nach der Ankunf t von den eigenen Leute eine Packung zu kriegen! Das ist wieder mal typisch.
Er richtete sich auf. Sein linker Arm war unbrauchbar und schlenkerte schlaff am Körper. Das Einhorn trat schützend neben ihn. Chane hob die Pike und kam mit einem hässlichen Grinsen näher. Doch im gleichen Moment lösten sich zehn verdreckte, blutverkrustete Soldaten aus den Flüchtlingsknäueln und schoben sich zwischen Rupert und die Angreifer.
Chane und seine Freunde warfen einen Blick auf die wild entschlossenen Gestalten und wichen einen Schritt zurück.
Stahl schabte gegen Leder, als die Gardisten ihre Schwerter zogen, und die Wachposten wichen noch einen Schritt zurück.
»Das ist unser Anführer«, sagte einer der Soldaten ruhig.
Rupert erkannte Rob Hawke, den Schwertmeister. »Wagen Sie es nicht, ihn zu bedrohen! Er hat uns heil aus der Finsternis zurückgebracht. Wenn er nicht gewesen wäre, hättet ihr uns das Tor vor der Nase zugeschlagen und uns da draußen verrecken lassen! So – und jetzt weg mit diesen Piken oder wir rammen sie euch in die ungewaschenen Hälse! Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Wer zum Henker seid ihr denn?«, stammelte Chane und ließ die Blicke unruhig über die grimmigen Gardesoldaten schweifen.
»Seit wann befehligen Sie die Torwache?«, fragte eine kalte, wohl bekannte Stimme. Rupert drehte den Kopf zur Seite und sah, dass der Champion neben ihn getreten war. Er hielt die Streitaxt in beiden Händen.
Chanes Kinnlade klappte nach unten, und jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. »Sir Champion…«, raunte er kaum hörbar. »Es hieß, Sie seien tot! Aber… wenn Sie am Leben sind, dann muss das… dann ist das…«
Er starrte Rupert mit weit aufgerissenen Augen an. Der Prinz quittierte seinen Blick mit einem grimmigen Lächeln.
Und dann senkte Chane zu Ruperts großer Verblüffung die Pike, kniete vor ihm nieder und verneigte sich tief. Die anderen Wachposten folgten seinem Beispiel.
»Verzeihung, Sire«, sagte Chane, und seine Stimme schwankte vor Bewegung. »Verzeihung, dass ich Sie nicht gleich erkannte… aber es ist so lange her… wir hatten jede Hoffnung aufgegeben… und alle sagten, Sie seien tot! Alle!«
»Nun, wie Sie sehen, lebe ich«, entgegnete Rupert knapp.
»Ein Gespenst wäre wohl nicht so verdammt durstig, wie ich es bin.«
Rob Hawke reichte Rupert sofort seine Feldflasche. Der Prinz nickte ihm dankbar zu und schob sein Schwert in die Scheide. Er nahm die Flasche, zog den Stöpsel mit den Zähnen heraus und trank gierig. Nie zuvor hatte ihm lauwarmes Wasser so köstlich geschmeckt. Allmählich ließ sein Durst nach, und er reichte die Feldflasche zurück. Chane und seine Männer knieten immer noch vor ihm, und er gab ihnen durch eine verlegene Geste zu verstehen, dass sie endlich aufstehen sollten. Ihre Unterwürfigkeit war ihm peinlich.
»Willkommen daheim, Sire!« In Chanes Augen leuchtete fast so etwas wie religiöse Ehrfurcht. »Willkommen auf der Burg, Prinz Rupert!«
Seine Worte hallten laut in der Stille wider, und ein Raunen ging durch die Reihen der dicht gedrängten Flüchtlinge.
Köpfe drehten sich in Ruperts Richtung, und hier und da standen Menschen auf, um besser sehen zu können. Das Gemurmel wurde lauter und schwoll zu einem wilden Geschrei an. Innerhalb von Sekunden war alles auf den Beinen und rannte auf Rupert zu. Sein Name machte die Runde, und Hochrufe klangen auf. Die Gardesoldaten bildeten einen schützenden Ring um den Prinzen, und Chanes Männer unterstützten sie rasch, als sie die wogende Menge näher kommen sahen. Rupert wich an die Mauer des Burghofs zurück und beobachtete verwirrt den Freudentaumel. Viele der Männer und Frauen hatten Tränen in den Augen. Rupert warf dem Champion einen fragenden Blick zu.
»Was zum Henker hat das zu bedeuten?«
Der Champion lächelte. »Offenbar hatte man uns seit geraumer Zeit für tot erklärt. Und welche Hoffnung hatte es nach dem Scheitern Ihrer Mission zum Schwarzen Turm noch geben sollen? Aber jetzt sind Sie da, zurück von der Langen Nacht im letztmöglichen Moment, begleitet vom legendären Großen Zauberer, der natürlich mit einem Fingerschnippen alles wieder in Ordnung bringen wird. Sie sind die Erhörung ihrer Gebete, Sire!«
Rupert rümpfte die Nase. »Wollen Sie ihnen die schlechte Nachricht beibringen, Sir Champion, oder soll ich es tun?«
Der Champion lächelte freudlos. Die Flüchtlinge drängten wieder vorwärts, ohne auf die Warnungen der Wachen oder die erhobenen Schwerter zu achten. Die Stimmung der Menge wandelte sich allmählich, wurde verzweifelt und wütend.
Rupert war nicht nur der zurückgekehrte Held, er war auch ihr Prinz; sie wollten wissen, wo er gesteckt hatte, was ihm zugestoßen war, weshalb die Reise so lange gedauert hatte, warum er nicht rechtzeitig zurückgekehrt war, um sie vor der Finsternis zu bewahren. Sie sahen weder seine Erschöpfung noch seine Wunden, sie sahen nur den Helden und Retter, den sie sehen wollten, den Wunderwirker, der die Dämonen vertreiben und alles wieder in Ordnung bringen würde, so wie es früher gewesen war. Ihre Stimmen wurden streitlustig und fordernd, und sie schoben und schubsten, rempelten die Wachen an und streckten die Hände nach Rupert aus, um ihn zu berühren und seine Aufmerksamkeit zu erzwingen. Und wieder wandelte sich die Stimmung, wurde aggressiv und bedrohlich, als den Flüchtlingen allmählich dämmerte, dass Rupert ihnen nicht die Versprechungen machte, die sie hören wollten. Verschiedene Gruppen versuchten einander zu überschreien. Die einen baten um mehr Essen oder Wasser für ihre Familien oder Tiere, andere verlangten Quartiere in der Burg selbst, abgeschirmt von der Finsternis. Das Geschrei wurde immer lauter, während sie Hoffnung, Trost und Antworten forderten – Dinge, die Rupert nicht bieten konnte. Der Prinz konnte ihnen den Ärger nicht einmal verübeln; er war so müde und verwirrt, dass seine Erklärungen nicht viel Sinn ergaben. Die Flüchtlinge wogten aufgebracht vor und zurück.
Der Jubel, mit dem sie ihn eben noch begrüßt hatten, war erstickt. Die Wachen sahen Rupert unschlüssig an und warteten auf seine Befehle, während die Menge erneut heranstürmte.
»Lasst mich in Ruhe, verdammt noch mal!«, rief der Prinz mit dröhnender Stimme und zog sein Schwert. Die Gardesoldaten gingen sofort in Kampfstellung und warteten auf den Befehl zum Angriff. Die Wachmannschaft brachte ihre Spie
ße in die Waagrechte, und der Champion wog die Streitaxt nachdenklich in der Hand. Die blutverschmierten Klingen und schweren Piken glänzten schwach im Licht der Fackeln.