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Kapitel 3

Dicht vor ihm, genau vor seinem Gesicht, öffnete sich das häßliche Maul unter dem rotglühenden Auge und enthüllte die scharfen Fangzähne. Heißer, fauliger Todesodem umwehte Siegfried. Der Schwarze war zurückgekehrt!

Mit einem Aufschrei warf sich der Jüngling nach vorn und umklammerte den Hals des Angreifers, wie er es in den alten Gemäuern der Wolfsburg getan hatte.

War der einäugige Wolf ein Geist, daß er von den Toten auferstanden war?

Geist oder nicht, Siegfried mußte ihn aufhalten, ihn daran hindern, die Wolfsfänge in das Fleisch des Menschen zu bohren, das Ungeheuer, wenn möglich, töten!

Und Siegfried drückte die Hände zusammen, wie eine Zange, fester und fester...

»Hör auf!« krächzte eine entsetzte Stimme. »Du bringst mich noch um, Siegfried!«

Die häßliche Wolfsfratze wurde zu dem breiten Gesicht eines Menschen. Eines zu Tode erschrockenen Menschen.

»Wieland!« stieß Siegfried überrascht hervor und lockerte den Griff um den breiten, kräftigen Nacken.

Der massige Schmiedebursche taumelte rückwärts durch Siegfrieds Kammer und tastete mit zitternden Fingern nach seinem geröteten Hals.

»Unser Freund Siegfried scheint beschlossen zu haben, uns allen den Garaus zu machen«, zwitscherte eine hohe Stimme. »Gestern schleuderte er eine Schwertspitze nach mir, und heute geht er dir an den Kragen, Wieland!« Die schlanke Gestalt Otters schob sich hinter Wielands breitem Kreuz hervor und grinste den auf seinem schmalen Bett liegenden Xantener an. »Du mußt ja einen schrecklichen Alptraum gehabt haben.«

Otter ahnte wohl kaum, wie richtig er mit dieser Vermutung lag. Siegfried sah sich wieder in der Wolfsburg, im Kampf mit dem Schwarzen. Dann das plötzliche Eingreifen des Falken - und das Runenschwert!

Mit der erbeuteten Schwerthälfte war er auf den Burghof zurückgekehrt, nachdem er seinen Dolch aus dem Wolfsleib gezogen hatte. Und noch einmal hatte er festgestellt, daß dies der größte Wolf war, den er kannte. Fast schade, daß er ihn zurücklassen mußte. Was für eine Trophäe!

Kaum saß er im Sattel, hatte er erkannt, daß die Gefahr noch längst nicht vorüber war. Rund um die alte Burg erklang schauerliches Geheul. Also war das Untier kein Einzelgänger gewesen, sondern der Leitwolf.

Siegfried verließ die Burg und ritt so schnell zurück, wie es Walddickicht und Dunkelheit erlaubten. Immer wieder drangen die Schreie der Wölfe an seine Ohren. Dann hörte er das Rascheln im Unterholz und sah unzählige glühende Augen in der Finsternis leuchten.

Er trieb Graufell an, und Graufell war schnell. Trotzdem schafften ein paar Wölfe den Angriff.

Über zwei, drei Raubtiere flog Graufell mit schnellen Sätzen hinweg. Einen Wolf traf Graufells kräftiger Huftritt, doch ein weiterer sprang auf den Pferderücken. Siegfrieds Dolch fraß sein Fleisch und sein Blut; mit kläglichem Todeswinseln rutschte der Angreifer zu Boden.

Dann lag offenes Gelände vor Reiter und Pferd. Graufell holte noch weiter, noch schneller aus. Der Königswald fiel zurück und mit ihm die Wölfe.

Siegfried hatte dank Graufells erstaunlicher Schnelligkeit die Schwertburg noch vor dem Morgengrauen erreicht. So müde war er gewesen, daß er dem Runenschwert kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er verschloß es in der Holzkiste unter seinem Bett, in der er seine persönlichen Sachen verwahrte.

»Schau dir das an, Wieland, der Kerl schläft glatt im Sitzen wieder ein!« krähte Otter und rüttelte Siegfried, dem die Augen wieder zugefallen waren. »He, aufwaaacheeen!«

Siegfried verzog das Gesicht und stöhnte. Otters schlanke Hand hatte eine tiefe Kratzwunde getroffen.

Der Schmiedebursche mit der seltsam bräunlichen Hautfarbe bemerkte sein Mißgeschick und zog die Hand zurück. »Hast du heimlich gekämpft?«

»Nein«, erwiderte Siegfried hastig. »Ich habe die Zähne meines neuen Pferdes zu spüren bekommen.«

»Sieht nicht wie ein Pferdebiß aus«, meinte Otter.

»Ist aber einer!« entgegnete Siegfried verärgert.

»Sieht eher nach einer Wildkatze aus«, fuhr Otter fort, während seine dunklen Augen auf Siegfried ruhten. »Und da sind noch mehr solcher Wunden!«

»Das geht euch nichts an!« knurrte der Xantener und zog die Lammfelldecke über seinen nackten Oberkörper. Er sah durch das Fenster, dessen Verschlag geöffnet worden war. »Überhaupt, was weckt ihr mich so früh am Morgen? Bis zur Arbeit hat es bestimmt noch eine Stunde!«

»Nein«, erwiderte Otter. »Du sollst dich fertigmachen, um mit Reinhold nach Xanten zu reiten. Ein berittener Bote kam im Morgengrauen und meldete das Nahen der Friesen. Eine ganze Flotte kommt den Rhein herauf, und über den Schiffen weht das königliche Wolfsbanner.«

»König Hariolf«, murmelte Siegfried. »So früh schon?«

»Meister Reinhold ist auch beunruhigt«, brummte Wieland, der noch immer seinen Hals rieb. »Er will in Xanten sein, noch bevor die Friesen dort ankommen. Du sollst dich beeilen. Er läßt den Grauen satteln.«

Der Graue!

Bei dem Gedanken an das tapfere Pferd fühlte sich Siegfried gar nicht wohl. Der nächtliche Ausflug mußte selbst ein so kräftiges Tier erschöpft haben. Sollte Siegfried seinem Ziehvater reinen Wein einschenken? Aber was war, wenn Reinhold ihm verbot, auch die zweite Schwerthälfte zu holen?

Nachdem Otter und Wieland ihn verlassen hatten, zog er sich an und ging schlaftrunken in den Speisesaal. Trotz der nächtlichen Aufregung verspürte er kaum Hunger und begnügte sich mit Brot, etwas Würzquark und Ziegenmilch.

Seine beiden Freunde hatten sich zu ihm gesetzt, und Otter frotzelte: »Dir schmeckt die einfache Landkost wohl nicht mehr, wo du bald ein König sein wirst. Träumst wohl schon von wohlriechenden Leckereien, von Fleischpasteten und kandierten Früchten.« Bei dieser Vorstellung schleckte Otters lange Zunge über die Lippen.

Otters Worte trafen Siegfried. Nicht, weil sie wahr gewesen wären. Der Prinz aus Xanten hatte sich auf der Schwertburg sehr wohl gefühlt, das einfache Leben und die harte Arbeit hatten ihm gefallen. Was ihn bedrückte, war der Gedanke an den Verlust all dessen, was sein Leben in den letzten Jahren ausgemacht hatte. Der Verlust von Freunden und von jugendlicher Ungezwungenheit.

Manche Nacht hatte er mit offenen Augen in der engen Kammer gelegen und davon geträumt, ein tapferer Ritter in strahlender Rüstung zu sein, ein weiser, angesehener König, fremde Länder zu bereisen, gegen feindliche Recken und Untiere zu kämpfen. Immer hatte er an all das gedacht, was er gewinnen wollte, nie an das, was er dabei unweigerlich verlieren würde: Otter, Wieland und die Träume, die sich erfüllten. In gewisser Weise auch Graf Reinhold, der nicht länger sein Zuchtmeister, sondern sein treuer, ergebener Untertan sein würde.

»Was denn, warum steht ihr hier so untätig herum?« brüllte Reinhold.

Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, stand er gestiefelt und gespornt im Durchgang zum Burghof. Das seidige Hemd und das samtene Wams wollten nicht recht zu der großen, kräftigen Gestalt passen. Vielleicht hatte Siegfried diesen Eindruck auch nur, weil er Reinhold zumeist mit nackter Brust und lederner Schürze an seiner Esse vor sich sah.

»Komm schon, Siegfried«, mahnte Reinhold. »Graufell steht bereit.«

Schnell verabschiedete sich Siegfried von Otter und Wieland und lief hinaus. »Nur zwei Pferde?« staunte er, als er in den Hof kam, wo Graufell neben einem großen Rapphengst stand. »Nehmen wir kein Gefolge mit, keine Knappen, kein Gepäck?«

»Wozu uns damit aufhalten?« entgegnete Reinhold und schwang sich in den Sattel, ohne auf die Hilfe des Reitknechts zu warten, der die Zügel hielt. »Graufell und Nachtwind sind die schnellsten Pferde weit und breit. Alles andere würde uns nur aufhalten und König Hariolf einen Vorsprung verschaffen.«