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»Aberglaube ist nur das, was von den Mächtigen dazu erklärt wird«, erwiderte Reinhold düster. »Das Runenschwert ist Vergangenheit und wird bald nur noch Legende sein. Gewiß, es wäre ein angemessenes Schwert für den Prinzen von Xanten, aber da es unerreichbar ist, nutzt dir diese Erkenntnis nichts.«

»Unerreichbar?« wiederholte Siegfried. »Jemand muß doch wissen, wo es versteckt wurde.«

»Die beiden Männer, die es versteckten.«

»Der eine ist wohl Grimbert«, meinte Siegfried und dachte an seinen wunderlichen Oheim.

»Ganz recht.«

»Und wer ist der andere?«

»Das bin ich«, sagte Reinhold.

»Ihr?«

»Warum so erstaunt?« fragte der Schmied. »Schließlich habe ich im vordersten Treffen gegen die Friesen gefochten, Seite an Seite mit deinem Vater. Wir waren gute Waffengefährten, und in uns beiden fließt das Blut der alten Götter.«

Siegfried fühlte sich bei diesen Worten von neuer Lebenskraft beseelt. Wie hatte der Graf doch zu ihm gesagt: Das Runenschwert wäre ein angemessenes Schwert für den Prinzen von Xanten!

»Wo ist das Runenschwert?« brach es aus Siegfried hervor.

Reinhold musterte ihn zweifelnd. »Es ist an Orten aufbewahrt, die jedem Sterblichen den Tod bringen.«

»Warum lebt Ihr und Grimbert dann noch?«

»Weil die Orte damals noch nicht so unzugänglich waren.«

Siegfried besann sich auf etwas, das Reinhold ihm beigebracht hatte: Wenn du den Gegner nicht durch Kraft besiegen kannst, dann versuch es mit einer List!

Also sagte er: »Wenn sie so unzugänglich sind, könnt Ihr sie doch ruhig nennen!«

Aber Reinhold durchschaute ihn und lächelte. »Die Gerissenheit mußt du von deinem Vater geerbt haben.«

»Vielleicht war es Vaters Wunsch, daß sein Sohn auch das Runenschwert erbt.«

Reinhold blickte lange auf den Fluß, wo ein Lastkahn arg mit einem Strudel zu kämpfen hatte. Nur mit Mühe kamen die Schiffer nach dem Einsatz langer Staken wieder frei. Der Schmied sprang mit einer Behendigkeit auf, die erstaunlich war für einen Mann, dessen Jugend schon lange zurücklag.

»Lassen wir die düsteren Gedanken und das Gerede über Götter und Runenmagie. Die Zeiten sind vorüber. Komm mit, mein Sohn, ich werde dir ein Geschenk machen, das du nicht so einfach zerbrichst!«

»Ein Geschenk?« fragte Siegfried hellhörig. Sein jungenhafter Geist hatte die Gedanken an das Runenschwert rasch verdrängt. Ein Geschenk war immer ein Grund zur Freude und, wenn es von Reinhold kam, gewiß nicht von geringem Wert. »Was ist es?«

»Etwas, das ich dir eigentlich am Tag der Schwertleite geben wollte. Aber heute ist eine ebensogute Gelegenheit.«

Reinhold führte ihn nicht zurück zur Schmiede, sondern zu den Weiden am Fluß. Edle Pferde grasten hier, Götterpferde. So wurden sie genannt, weil der alte Glaube auch ihre Existenz auf die Götter zurückführte. Dunkel erinnerte sich Siegfried an die Sage, nach der Loki sich, als Stute verwandelt, mit dem Hengst des Riesenbaumeisters gepaart hatte, um das Tier von der Arbeit abzuhalten. Dieser Verbindung war der Dahingleitende entsprungen, Wodans berühmtes achtbeiniges Roß.

»Auf dieser Weide findest du nur hervorragende Pferde«, sagte Reinhold und zeigte auf die sanft abfallende Wiese, die geradewegs zum Rhein führte. »Such dir das beste aus!«

Siegfried überlegte nur kurz, dann lief er mit lautem Geschrei und ausgebreiteten Armen auf die Weide und trieb die Pferde in den Fluß, der an dieser Stelle von nicht geringer Strömung war. Unter lautem Gewieher sprangen die meisten Tiere sofort wieder aus den Fluten, schlugen einen weiten Bogen um den Störenfried und kehrten auf die Wiese zurück. Nur ein großer grauer Hengst stemmte sich gegen die Fluten, blieb ruhig stehen und erwiderte Siegfrieds Blick mit stolz erhobenem Kopf.

»Das ist mein Pferd!« sagte Siegfried.

»Graufell?« fragte Reinhold. »Weshalb er?«

»Weil er der Gefahr nicht weicht, sondern ihr mutig trotzt. Wer sich vor dem mächtigen Rhein nicht fürchtet, wird mich auch in der Schlacht nicht im Stich lassen.«

»Eine gute Wahl«, befand Reinhold mit anerkennendem Lächeln.

Warm war die Nacht, fast schwül, und die sich ausbreitenden Wolkenschleier boten gute Aussicht auf ein Sommergewitter. Donar, der Donnergott, jagt durch die Nacht, hätten die Menschen früher gesagt.

Mond und Sterne verschwanden immer wieder hinter den dunklen Schlieren. Dann verlor der große Strom seinen Silberglanz und floß in unheimlicher, bedrohlicher Schwärze dahin. Auf Siegfried wirkte er wie die riesige Schlange, die sich nach altem Glauben um die ganze Welt wand. Er saß fast an derselben Stelle wie am Tage, als er hier mit Meister Reinhold gesprochen hatte. Aber jetzt war er allein. Er kam oft hierher, wenn er seine Gedanken ordnen wollte. Der Fluß schien ihm dabei zu helfen, vielleicht weil er Siegfried mit denen verband, die ihm nahestanden und doch so fern waren. Mit seiner Mutter Sieglind in Xanten. Und vielleicht auch mit seinem toten Vater Siegmund, dessen Leichnam im Land der Friesen geblieben war. Siegfried war traurig, daß Reinhold ihm die Orte verschwiegen hatte, an denen die Hälften des Runenschwertes lagen. Mit dem magischen Schwert in seinen Händen hätte er wenigstens mehr als eine Erinnerung von seinem Vater gehabt.

Lautes Plätschern im nahen Ufergewässer erregte seine Aufmerksamkeit. Es übertönte das Rauschen des breiten, kraftvollen Stroms. Siegfried spähte ins Dunkel. Er konnte kaum etwas erkennen, so dicht hatte sich die Wolkendecke schon zusammengezogen. Flußabwärts konnte er noch die ungefähren Umrisse der Rheinfeste ausmachen. So wurde eine befestigte Insel an einer engen Stelle des Flusses genannt. Jetzt war sie unbemannt. Aber in Kriegszeiten, wenn Feinde aus dem Norden über den Rhein vorrückten, fiel den Männern der Schwertburg die Aufgabe zu, die gegnerischen Schiffe an der Rheinfeste zurückzuhalten. Wie tot lag der wuchtige Felsen im Strom. Die dunklen Zinnen und Türme verschmolzen mit dem Nachthimmel.

Ein kalter Schauer lief über Siegfrieds nackte Arme, die das lederne Wams unbedeckt ließ. Aber schuld war nicht die Nacht, sondern der Gedanke an die unbekannten Tiefen des Rheins.

Mochten die Christenpriester auch darüber zetern und spotten, aber kaum jemand, der am Fluß lebte, war frei von dem Glauben an Wassergeister. Siegfrieds alte Amme hatte ihrem kleinen Schützling erzählt, daß die Seelen Ertrunkener in den Fluten gefangen waren. Und von einem mächtigen, bösen Flußdämon hatte sie gesprochen, dem Siebenschläfer.

Er warf einen raschen Blick über die Schulter. Weit entfernt ragten in dunklen Umrissen die Mauern der Schwertburg auf, wurden fast aufgesogen von der Finsternis. Die meisten Menschen in der Burg schliefen bereits, und auch in den Werkstätten waren der Schlag der Hämmer, das Prasseln der Feuer und das Zischen der Blasebälge längst verklungen. Nur die Wachen auf den Türmen und Wehrgängen durften ihre Augen nicht schließen, auch wenn sie sich nicht immer daran hielten.

Falls im Fluß ein Geist lauerte - ein Hakemann vielleicht, darauf aus, Siegfried mit seinem langen Haken einzufangen und für ewig in den Rhein zu ziehen -, würde niemand dem jungen Xantener zu Hilfe kommen. Man würde sein Unglück nicht einmal bemerken.

Da, wieder dieses Plätschern!

Laut und schwer klang es. Wie ein sehr großer Stein, der ins Wasser geworfen wurde und über den anfangs flachen, abschüssigen Flußboden rollte. Oder wie ein massiges Tier, das sich dort bewegte. Vielleicht ein Fisch, sagte sich Siegfried, ein Hecht, ein Barsch oder eine Äsche.

Gebannt starrte Siegfried auf das Wasser. Der Mond schickte seine Strahlen durch eine Lücke im Wolkengespinst, tauchte das linke Rheinufer, an dem Siegfried saß, in molkiges Licht.