»Aber das ist doch nicht wahr!«
»Habe ich dir etwa gesagt, dass es wahr wäre?« Lion erhob seine Stimme. »Nein, sag nur, habe ich das gesagt? Ich sage dir, wie alles in meinem Traum war! So! Und dass darin — vielleicht — ein bisschen Wahrheit stecken könnte!«
Er hatte Recht. Ich hatte Lion attackiert wie einen Feind…
»Entschuldige.«
Lion schaute weg. Dann murmelte er: »Schon gut… Weißt du, jetzt bin ich erleichtert. Im Prinzip ist es ein Traum, aber am Anfang war alles sehr wahrhaftig.«
Mir fiel auf, dass er wie ein kleines Kind an seinen Nägeln kaute.
Dann bemerkte er, was er tat, und nahm schleunigst seine Hand vom Mund.
»Ein dummer Traum«, meinte ich.
»Sicher. Ich erinnere mich an mein Haus, Tikkirej. Es stand im Garten, ein Weg aus rotem Ziegelstaub führte zu ihm hin. Sogar das Auto mussten wir vor dem Tor abstellen. Das Haus hatte drei Etagen, ein hohes Fundament, Wände aus alten Steinen, Holzfensterrahmen und -türen. Es hatte breite Stufen, die zur Veranda führten, und abends tranken wir dort Tee und manchmal Bier oder Wein. Die Wände waren mit Wein bewachsen. Er war nicht kultiviert, fast wild, aber man konnte die Trauben trotzdem pflücken und essen. Und die Fußböden waren aus Holz, alt, aber ohne zu knarren. Am Giebel hing eine schmiedeeiserne Laterne. Abends habe ich immer die Lampe angemacht, und die Stechfliegen und Nachtfalter schwärmten im Lichtkegel…«
»Was ist ein Giebel?«, wollte ich wissen.
Lion zog die Stirn in Falten. Unsicher wedelte er mit den Händen, als ob er mit ihnen Dreiecke baute.
»Das ist… na, unter dem Dach, zwischen Dachschrägen und Dachboden, wenn du die Fassade betrachtest. Wieso?«
»Ich kannte dieses Wort nicht«, erklärte ich.
»Ich auch nicht«, gab Lion zu, »ich habe ja gesagt, dass ich viel gelernt habe. Ich habe bei Geburten geholfen, ein kosmisches Raumschiff geflogen, gekämpft…«
Er verstummte erneut.
»Lion, niemand hindert dich doch daran, groß zu werden, so ein Haus zu bauen und darin zu wohnen«, sagte ich.
»Ich habe ja dort nicht allein gelebt.«
»Ja, dann wirst du eben nicht allein sein…«
Lion nickte. Dann ergänzte er zurückhaltend: »Katharina hat beim medizinischen Dienst gearbeitet. Sie hat mich aufgepäppelt, als alle schon davon ausgingen, dass ich sterben würde. Das war nach dem Hinterhalt, in dem du getötet wurdest…« Er unterbrach sich.
»Mich?«, fragte ich nach. »Du hast also mich gemeint, als im Hinterhalt… und dann hast du alle…?«
Lion stimmte zu. »Ja. Das warst du. Wir waren sicher schon um die zwanzig Jahre alt. Wir sind in Neu-Kuweit gemustert worden. Wir sollten in die Armee eintreten. Wir sind zu den Rangern gegangen.«
Er begann wieder, an den Nägeln zu kauen, bemerkte es aber gar nicht.
»Lion, das war ein — Traum«, meinte ich.
»Aber vielleicht war überhaupt alles ein Traum?«, widersprach er. »Weißt du, wie ich meinen ersten Jungen genannt habe? Tikkirej!«
Eine Minute verging, ohne dass ich wusste, was ich sagen sollte.
Aber dann begann sich in meiner Brust ein kleines Lächeln breitzumachen. Ich unterdrückte es, so gut ich konnte. Ich habe mit allen Mitteln dagegen angekämpft, ehrlich!
Aber es wurde immer stärker. Ich fing an zu husten, um es zu ersticken. Dann zu kichern.
Dann wälzte ich mich einfach auf dem Boden herum und lachte aus voller Kehle.
Lion sprang auf und sah mich zutiefst beleidigt an.
»Da… da… danke!«, quetschte ich zwischen meinen Lachattacken heraus, »Lion, danke…«
»Du Ignorant!«, schrie Lion. »Hast du eine Ahnung, was ich durchgemacht habe! Ich habe danach deine Leiche rausgeschleppt…«
Aber ich konnte mich nicht beherrschen. Als Lion von Kriegen, seiner virtuellen Ehefrau und dem nicht existierenden Haus erzählte — das war schon schlimm. Als ob es wahr wäre.
Als er aber sagte, dass ich getötet wurde, verflog die Beklemmung.
Alles, was blieb, war ein dummer Traum.
»Ich polier dir gleich die Fresse!« Lion warf sich auf mich. Ich schaffte es, mich auf dem Boden wegzurollen, und schrie: »Und danach wirst du die… Leiche wegschleppen?«
Lion verfehlte mich und landete auf dem Boden. Er warf sich erneut auf mich. Nun aber nicht, um sich mit mir zu schlagen. Er umarmte mich, und das war komisch: Er führte sich auf wie ein Erwachsener, der ein Kind tröstet.
Nach kurzer Zeit zog Lion sich zurück und fing ebenfalls an zu lachen.
»Zum Teufel mit der Wahrheit!«, rief ich. »Das war ein Traum, ein Traum, ein Traum! Ein dämlicher, blöder Traum. Ich lebe, du lebst und mit Inej wird man ohne uns fertig werden. Und ein Haus wirst du dir schon noch bauen, mit welchem Giebel auch immer, sogar mit Springbrunnen!«
Wir hielten uns an den Händen und lachten noch eine gute Weile, bis uns die Tränen aus den Augen strömten.
Dann wischte sich Lion das Gesicht ab und meinte: »Okay, vertragen wir uns. Sonst fange ich wirklich noch an, mich mit dir zu schlagen, und ich bin ja dazu ausgebildet…«
»Ich bin nicht dazu ausgebildet, aber ich kann es trotzdem«, drohte ich ihm. »Vertragen wir uns lieber. Und wir benehmen uns wie die Idioten. Hier wird doch sicherlich alles von Kameras überwacht!«
Lion wurde sofort ernst.
Und als ob meine Worte bestätigt werden sollten, öffnete sich eine unbemerkt gebliebene Tür. Es schien kein Fahrstuhl zu sein, dahinter war ein Korridor zu erahnen.
»Jungs, wo seid ihr?«
Die Stimme war weiblich und angenehm. Wir sprangen auf.
Ein nettes, junges Mädchen in einem streng geschnittenen Hosenanzug trat in den Saal.
»Wer von euch ist Lion?«, fragte sie lächelnd.
Ich verstand augenblicklich, dass sie wusste, wer von uns wer war.
»Ich«, machte sich Lion bemerkbar.
Das war überflüssig! Ich hätte mich für Lion ausgeben sollen, dann hätte sie zugeben müssen, dass sie nur pro forma gefragt hatte…
»Ich bin Doktor Anna Goltz«, sagte das Mädchen. »Nennt mich einfach Anna, okay?«
Lion nickte.
»Wir müssen miteinander reden, komm mit. Du wirst mir von deinen Träumen erzählen, einverstanden?«
»Hm.« Lion sah sich zu mir um, steckte danach seine Hände in die Taschen und folgte dem Mädchen.
»Ohne dich fahre ich nicht weg!«, rief ich ihm schnell hinterher. »Doktor Goltz, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie fertig sind?«
»Mache ich, einverstanden.« Das Mädchen nickte mir zu.
»Einverstanden«, äffte ich sie nach, als sich die Tür schloss. Ich setzte mich in den Sessel und legte die Beine auf die Lehne, ganz wie Lion.
Stasj wusste bestimmt, dass Lion geholt werden sollte. Er hätte ruhig etwas sagen können…
Kapitel 4
Allein wurde mir sofort langweilig. Ich dämmerte im. Sessel vor mich hin. Erkundete den Flur — und fand noch zwei unauffällige Türen. Nicht etwa, dass sie versteckt gewesen wären, solche hätte ich nicht entdeckt, sondern Türen, die als »Wand« kaschiert waren.
Danach saß ich eine Weile am Springbrunnen. Ich gab dem Mädchen einen Tatsch aufs Bein — die Bronze fühlte sich kalt und rau an. Dann riss ich ein Stück Moos ab und examinierte es. Es schien echt zu sein, keine Synthetik zur Verschönerung…
Man hätte zumindest Fische ins Wasser setzen können!
Nachdem ich wieder im Sessel saß, versuchte ich mir auszumalen, was gerade mit Lion passierte. Man würde ihn nicht in Stücke schneiden, das war klar. Sicher hatte man ihm einen Helm aufgesetzt und zeichnete alle möglichen Enzephalogramme auf. Und womit war Stasj beschäftigt? Legte er dem Rat der Phagen alles dar, was er über mich dachte?
Ich war dermaßen in Gedanken versunken, dass ich erst gar nicht bemerkte, wie die Schlange vom Arm kroch und ihr Köpfchen unter meinen Kragen steckte. Dann aber spürte ich, wie sie sich in den Neuroshunt einschraubte.
Vielleicht sollte ich besser den Kopf wegziehen? Die verrückte Schlange konnte ja sonst was vorhaben! Aber ich saß nur unbeweglich da und kalter Angstschweiß brach mir aus.